“Deutsche sind an Angst nicht gewöhnt“

  14 September 2016    Gelesen: 611
“Deutsche sind an Angst nicht gewöhnt“
Der islamistische Terror ist in Europa angekommen. Vor allem in Frankreich, aber mit den Anschlägen von Würzburg und Ansbach auch in Deutschland. Trotzdem hält der französische Soziologe Gilles Kepel die aktuelle Generation der Dschihadisten für Versager.
n-tv.de: Bisher sind vor allem Frankreich und Belgien Ziel islamistischer Attentäter geworden. Hatte Deutschland einfach Glück?

Gilles Kepel: Die Deutschen fragen sich natürlich, wird die katastrophale Situation in Frankreich uns auch passieren? Das weiß ich natürlich nicht. Aber ich bin sicher, dass eine genaue Kenntnis der Situation in Frankreich für die Debatte unerlässlich ist, weil es trotz vieler Unterschiede Ähnlichkeiten zwischen den Ländern gibt. Deutschland hat einfach ein leistungsfähigeres Sozialsystem. Im Gegenteil zu den Jugendlichen in Frankreich und Belgien haben die Deutschen bessere Perspektiven, zum Beispiel dank der Möglichkeit eine Ausbildung zu machen. Das haben wir so nicht in Frankreich.

In Ihrem Buch verweisen Sie auch auf historische Unterschiede.

Der retro-koloniale Konflikt ist in Frankreich sehr wichtig. Deutschland hat nicht so eine schlimme koloniale Vergangenheit. Mohammed Merah hat bei seinem Attentat am 19. März 2012 jüdische Kinder getötet, 50 Jahre nach dem Ende des Algerienkriegs. Er wollte den Waffenstillstand brechen und diesen Krieg in Frankreich wiederaufnehmen. Er ist in einer Familie aufgewachsen, die Frankreich gehasst hat. Seine Mutter hat gesagt, wie stolz sie auf ihren Sohn sei, dass er Frankreich in die Knie gezwungen hat. Dieses Motiv gibt es nicht in Deutschland.

Sie haben jetzt vor allem die Faktoren beschrieben, die Frankreich zu einem offensichtlicheren Terrorziel gemacht haben. Inwiefern ist Deutschland trotzdem gefährdet?

Deutschland steht natürlich im Visier der Terroristen. Frau Merkel ist die größte und einzige Führungspersönlichkeit in Europa, Frau Merkel ist Europa. Außerdem wird die Ankunft der Flüchtlinge vom IS als außergewöhnliche Möglichkeit wahrgenommen. Der andere Faktor ist, dass die Flüchtlinge arabisch und nicht türkisch sind. Das stellt die deutsche Gesellschaft vor enorme Herausforderungen. An diese Angststimmung sind die Deutschen nicht gewöhnt. Das Obama-Merkelsche "Yes, we can", wir schaffen das, hat seine Grenzen.

In Frankreich hat von dieser Entwicklung vor allem der rechtspopulistische Front National profitiert.

Ja, und in Deutschland gibt es eine ähnliche Tendenz mit der AfD, die bei den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern gerade stark abgeschnitten hat. Und das, obwohl man in Mecklenburg-Vorpommern so gut wie keine Flüchtlinge sieht. Aber das ist normal. Umfragen haben gezeigt, dass die Regionen, in denen der FN am meisten gewählt wurde, nicht die waren, in denen es viele Araber gab. Spannend ist aber, dass Muslime zunehmend als Wähler interessant werden.

Inwiefern?

Als ich mich mit den Wahlen 2012 beschäftigt habe, war ich sehr erstaunt, dass sich eine Art islamisches Stimmenkontingent bildet. Das kann jedem zufallen, der gewisse Bedingungen erfüllt. So haben 90 Prozent der muslimischen Wähler François Hollande gewählt, um Nicolas Sarkozy abzustrafen. Ohne dieses massive Engagement hätte Hollande nicht gewonnen. Aber nachdem die Sozialisten die Homo-Ehe in Angriff genommen haben, riefen die Imame am Freitag dazu auf, sie abzustrafen. Seitdem werden alle sozialistischen Kandidaten von konservativen geschlagen.

Sie beschreiben in Ihrem Buch eine dritte Generation von Dschihadisten, die sich nicht mehr als Organisation, sondern als System versteht und verhält. Was bedeutet das?

Die zweite Generation um Osama bin Laden, die die spektakulären Angriffe am 11. September 2001 verübt hatte, war pyramidal organisiert. Befehle wurden von oben nach unten ausgeführt. Früher musste man die Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen, um neue Anhänger zu rekrutieren. Heute reicht es, bei Facebook angemeldet zu sein. Die dritte Generation des Dschihadismus funktioniert nach der Logik von Netzwerken. Über diese Plattformen werden Inhalte wie der "Appell zum weltweiten islamischen Widerstand" von Abu Mussab al-Suri verbreitet, auf den sich alle Attentäter der letzten Jahre beziehen.

Wie äußert sich der Netzwerkcharakter konkret?

Die Attentate werden heute von Tätern verübt, die sonst zum IS nach Syrien gegangen wären, jetzt aber die Grenze nicht mehr passieren können. Adel Kermiche, der in St. Étienne einen Priester ermordet hat, hat digital Kontakt zum IS aufgebaut. Das gleiche gilt für die Täter von Würzburg und Ansbach, die aus der Ferne aktiviert wurden. Sie sind Suris Aufruf gefolgt, den "weichen Bauch des Westens", also Europa, anzugreifen. Danach wurden die Taten vom IS in Anspruch genommen.

Ihr Buch ist ursprünglich im Dezember 2015 erschienen und wurde jetzt erst ins Deutsche übersetzt. Seitdem hat es neue Anschläge gegeben. Hat sich die Situation verändert?

Es gab immer die Frage, ob diese dritte Generation es schaffen würde, die Massen hinter sich zu vereinen. Im Januar haben die Islamisten mit den Zeichnern von "Charlie Hebdo" islamkritische Menschen ins Visier genommen. Damals gab es viel Applaus aus der muslimischen Gesellschaft. Das war im November anders. Wenn das Attentat im Stade de France Erfolg gehabt hätte, hätte es Tausende Tote gegeben, darunter Frankreichs Präsident François Hollande und den deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Ich habe mich mit vielen Leuten in den Gefängnissen unterhalten. Die sagen über die Attentäter: "Das sind Mistkerle, diese Jungs. Mein Bruder war in diesem Stadion." Und in Nizza waren mehr als ein Drittel der Opfer Muslime. Und dafür, dass Muslime andere Muslime töten, gab es nicht viel Beifall. Insofern hat die dritte Generation bisher versagt.

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