(Un)sichtbare Opfer im Syrienkonflikt

  01 November 2015    Gelesen: 629
(Un)sichtbare Opfer im Syrienkonflikt
Zur Ästhetisierung des Todes in der aktuellen Medienlandschaft
Die russische Offensive in Syrien passiert medial mehr oder weniger im Unsichtbaren. Es finden sich kaum Photographien davon in den Medien. Es finden sich einige wenige Bilder von Kriegsgerät und Aufnahmen der aus den Golfkriegen bekannte Militärperspektive, der Blick aus dem Flugzeug, der Bombe nach, die hunderte Meter tiefer explodiert. In grobem Schwarz/Weiß, ohne Bezug zur Größenverhältnissen, Vegetation und Menschen, stellen diese Bilder eine abstrakte Darstellung des Sterbens dar.

Diese Bilder implizieren das Sterben, den Tod vieler Personen, jedoch in nicht-persönlichen, nicht-menschlichen Kategorien. Die Opfer bleiben in diesen Bildern unsichtbar. Das liegt einerseits daran, dass das russische Militär von diesen keinerlei Aufnahmen zur Verfügung stellt, und anderseits daran, dass kaum medialer Austausch zwischen IS und westlichen Medien passiert.

Bis auf wenige Ausnahmen finden sich weder professionelle Pressephotographien noch Amateuraufnahmen aus diesem Gebiet in der westlichen Berichterstattung. Ausnahmen bestehen unter anderen in den Alltagsreportagen, welche z.B. das Vice Magazin zu Syrien veröffentlichte oder auch aus den Propagandafilmen des IS selbst. Einige dieser Filme funktionieren dabei vor allem über die explizite Inszenierung des Todes. Der zynische, respektlose Umgang mit den Toten, den Körpern der soeben vor laufender Kamera Hingerichteten, ist hier intendiert. Die Grausamkeit dieser Bilder liegt in der unmittelbaren Sichtbarkeit eines "realen" Mordes, der noch dazu auf brutalste Art und Weise an Unschuldigen begangen wird.

Taten dieser Art drangen bisher nur in seltenen Fällen als Bild, als konkrete Photographie in unsere Medienwirklichkeit ein. Hier ist jedoch in letzter Zeit eine Häufung zu beobachten. Mittels Bildzeitung werfen wir einen kurzen Blick in einen LKW in welchem sich 71 tote Flüchtlinge befinden. Wir werden aufgerüttelt durch die Photographie eines toten Jungen am Strand. Die Bilder vom Tod sind längst Konsumgut. Dennoch spaltet deren Veröffentlichung noch immer die mediale Hegemonie. Die Frage ist letztendlich: Welches Tabu wird bei der Veröffentlichung von Photographien toter Körper verletzt?

"Aylan", der Name dieses Jungen, der symbolisch für tausende weitere Schicksale steht, die unsichtbar bleiben, ist inzwischen weltweit bekannt. Diese Bekanntheit beruht auf den Bildern, welche von der Photographin Nilüfer Demir von Aylans totem Körper angefertigt wurden. Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Verlust, wie ihn der Tod eines Kindes darstellt, nicht in ästhetische Kategorien übersetzt werden kann. Jede Photographie davon bleibt für Nicht-Betroffene immer nur Klischee. Ein Schatten eines Verlusts der uns als Publikum nicht persönlich betrifft. Wir vermissen nichts. Was wir empfinden, ist bloß Vorstellung, das Vermissen bleibt virtuell. Diese Differenz zwischen Wirklichkeit und Abbildung gilt für alle Pressebilder. Sie sticht jedoch beim Versuch, dieses singuläre Erlebnis am Ende des Lebens eines jeden Menschen, den Tod, darzustellen, besonders stark hervor.

Der den Photographien vom Sterben implizite Voyeurismus, der Schock, der Verkaufszahlen fördert, ist dabei jedoch nicht das Problem. Die monetäre Bewertung der Bilder vom Tod ist ebenso nur Konsequenz, nicht Kern des Tabus. Auch die Frage nach der medienrechtlichen Lage führt zu keiner Erkenntnis in diesem Fall: Darf der Tod eines Kindes abgebildet und einer breiten Öffentlichkeit als Bild offenbart werden? Ja er darf; solange keine Persönlichkeitsrechte verletzt werden, ist daran rechtlich nichts auszusetzen. Im Fall des syrischen Jungen Aylan gibt es eine Einverständniserklärung des Vaters, der hier stellvertretend für seinen toten Sohn die Erlaubnis erteilt .

Der Tabubruch, der bei der Veröffentlichung dieser Photos geschieht, liegt auf ästhetischer Ebene. Im Abbilden verliert der Tod seine Unfassbarkeit. Die Bilder von toten Körpern entheben den Tod des Rituals, in welches er gefasst wird, und damit seiner respektgebietenden Einzigartigkeit. Der tote Körper ist als Photographie nicht mehr heilig, sondern steht im kompetitiven Vergleich zu anderen toten Körpern. Neben unzähligen anderen Photographien ertrunkener Flüchtlingskinder wie diejenigen, die auf Twitter von MigrantReport veröffentlicht wurden, wirken die Photographien, welche Demir vom toten Körper Aylans angefertigt hat, pietätvoller.

Aylan liegt in der Dünung des Meeres, als ob er schlafen würde, die Arme am Körper angelegt, die Beine gerade, das Gesicht nach unten im Sand verborgen. Die meisten anderen Photographien von ertrunkenen Kinderleichen zeigen hingegen wild verrenkte Körper, die Gliedmaßen unnatürlich vom Körper abstehend, mit aufgerissenen Augen. Diese Bilder bieten einen grauenvollen, einen "unmenschlichen" Anblick. Die verschiedenen Photographien vom Tod unterscheiden sich also nicht nur in ihrer Qualität in Bezug auf ihre Gemachtheit, die gewählte Bildsprache, sondern auch in Bezug auf die Qualität des Motivs.

Der Tod, die toten Körper und ihre Posen, werden somit zum Gegenstand von medialen Inszenierungen. Diesem Umstand ist auch das oben erwähnte hierarchische Verhältnis implizit. Es gibt Leichen, welche sich auf photographischer Ebene für die mediale Verwertung besser eignen als andere. Auf der medialen Ebene verliert die Phrase »Vor dem Tod sind alle gleich« ihre Gültigkeit. Manche Photographie vom Tod, manch toter Körper, passt besser in das ästhetische Regime der aktuellen Medienlandschaft als andere. In dieser dem Medialen, dem Photographischen impliziten Bewertung liegt der Tabubruch. Es gibt besser und schlechter nutzbare tote Körper.[1]

Der Mensch, welcher diesen toten Körper besessen hat, spielt im medialen Zusammenhang keine eigenständige Rolle mehr, er wird zum Darsteller seiner eigenen Geschichte und tritt hinter den Nutzen zurück. Der Tod als ästhetische Kategorie, die sich an Schau- und Informationswerten orientiert, widerspricht der prinzipiellen Vorstellung eines heiligen, eines einzigartigen Todes. Der tote Körper im Bild wird für die Medienlandschaft zum Material, das sich einer strengen ästhetischen Selektion im Hinblick auf monetären, auf aufmerksamkeitsökonomischen, aber auch politischen Mehrwert gefallen lassen muss. Wie bereits am Anfang dieses Artikels erwähnt, nutzen zum Beispiel terroristische Organisationen wie der IS explizite Bilder des Sterbens und des Todes für ihre an westlichen Genres orientierte und an die westlichen Medien gerichtete blutige PR-Arbeit.

Sollen diese Bilder des "realen" Todes nun einer breiten Öffentlichkeit via Mainstreammedien zugänglich sein? Oder anders gefragt: Lässt sich die Ästhetisierung des "realen" Todes überhaupt noch aufhalten? Diese Fragen sind auch im Hinblick auf bereits bestehende digitale Subkulturen hinfällig. Digitale Recherche im Web ermöglicht bereits einen allumfassenden Blick, der den Tod als ästhetische Kategorie beinhaltet. Zu vielen Medienereignissen lassen sich mit wenig Aufwand jene Bilder finden, die nicht in der täglichen Berichterstattung gezeigt werden; seien es die geleakten gerichtsmedizinischen Photographien der zerfetzten und aufgedunsenen Leichen der Tsunami-Opfer von 2004, die Amateurbilder von Opfern des Boston-Marathon Anschlags 2013 oder eben die Photographien ertrunkener Flüchtlinge.

Die in diesem Artikel angesprochenen subkulturellen Archive[2] sind nicht auf Photographien des Todes beschränkt; für beinahe jede Kategorie gibt es entsprechende Sammlungen, welche in voyeuristischer Manier unzensiert visuelle Inhalte anbieten. Über diesen Weg ist der "reale" Tod bereits als ästhetische Kategorie in der aktuellen digitalen medialen Welt fest verankert. Diese Entwicklung lässt sich nicht umkehren.

Unter diesen Vorzeichen scheint der Versuch des Verbannens der Bilder des Todes aus den Mainstreammedien nicht nur anachronistisch. Die respektgebietende Einzigartigkeit des Todes kann dadurch auch nicht wieder hergestellt werden. Es gilt das totale Sehen, welches digitale Medien seit ihrer Entstehung anbieten[3], zu akzeptieren.

Die Mainstreammedien entziehen sich durch ein Bildverbot im Dokumentarischen ihrer Verantwortung darüber, wie das Menschliche dokumentiert, wie der Tod dargestellt werden soll. Sie überlassen dieses Feld den meist aufs Voyeuristische abzielenden Subkulturen oder auch der zynischen enthemmten Propagandamaschinerie des IS. Dadurch entziehen sie sich ihrer gesellschaftlichen Funktion, das mediale Blickregime zu ordnen. Die Tabuisierung der medialen Darstellung des Todes ist letztlich kontraproduktiv für einen würdevollen Umgang mit dem Tod in den Medien. Vielmehr gilt es an einer Ästhetik zu arbeiten, welche entsprechende, respektvolle Bilder ermöglicht. Dies ist letztendlich nicht nur eine Aufgabe für die Medienproduzierenden, sondern auch für das teilnehmende Publikum.

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