Das italienische Risiko

  23 November 2016    Gelesen: 457
Das italienische Risiko
Angela Merkel will eine vierte Amtszeit als Kanzlerin. Im Moment hilft es ihr, dass weniger Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Doch das kann sich bald ändern. In Italien spitzt sich die Lage bereits zu.
"Unendlich viel" habe sie darüber nachgedacht, ob sie noch einmal als Kanzlerin kandidieren soll, sagt Angela Merkel.

Das hat sicherlich auch mit der Flüchtlingskrise zu tun. Denn die ist eine der großen Unberechenbarkeiten für die Kanzlerin. Mit ihrer Willkommenspolitik im Herbst 2015 hatte Merkel Teile der eigenen Partei und Anhängerschaft verstört, ihre Beliebtheitswerte sanken, die AfD stieg auf. Inzwischen hat sich die CDU-Chefin von dieser Politik der offenen Grenzen verabschiedet. "Die Ereignisse des vergangenen Jahres dürfen sich nicht wiederholen", heißt es im Leitantrag für den CDU-Parteitag.

Und tatsächlich ist die Situation in Deutschland anders als noch vor einem Jahr - auch wenn sich an den Fluchtursachen, dem Krieg in Syrien, der Lage in Afghanistan, der wirtschaftlichen Not in Afrika, nicht viel geändert hat. Dass weniger Menschen in Deutschland Schutz suchen, liegt vor allem am Flüchtlingsabkommen, das die EU mit der Türkei geschlossen hat, und an den Grenzschließungen auf der Balkanroute. Statt mehr als 180.000 Asylsuchende wie im Oktober 2015, registrierten die deutschen Behörden im Oktober 2016 nur rund 15.000 Neuankömmlinge.

Auch wegen dieser Entspannung erscheint möglich, dass Merkel noch einmal Kanzlerin wird. Aber es ist nicht ausgemacht, dass die Flüchtlingszahlen in Deutschland bis zu den Wahlen im September 2017 relativ niedrig bleiben. Nicht nur weil der türkische Präsident Erdogan ein unberechenbarer Partner ist.

Über einen anderen für Merkel riskanten Faktor in der Flüchtlingskrise wird weniger geredet: Über die sich zuspitzende Lage in Italien.

Während in Griechenland die Flüchtlingszahlen sinken, sind an den Küsten Italiens im Oktober so viele - vorwiegend afrikanische Migranten - wie nie zuvor in einem Monat angekommen. 2016 könnte, wenn es so weitergeht, für Italien zum Rekordjahr in der Flüchtlingskrise werden. "Seit Monaten kollabieren die Erstaufnahmereinrichtungen, das italienische System kippt", sagt Karl Kopp von Pro Asyl. Menschenrechtler berichten über Misshandlungen von Migranten durch italienische Polizisten. Italiens sozialdemokratischer Ministerpräsident Matteo Renzi warnte jüngst, sein Land werde "kein weiteres Jahr wie dieses überstehen".

Renzi steht unter großem Druck. Die italienische Wirtschaft lahmt, die Unzufriedenheit der Menschen wächst. Längst ist nicht mehr unwahrscheinlich, dass Italien in die Hände von Rechtsnationalisten der Lega Nord und der irrlichternden Wir-sind-gegen-alles-Populisten der 5-Sterne-Bewegung des Ex-Komikers Beppe Grillo fällt. Die "Trumpisti" in Bella Italia jubeln schon. Ergebnis könnte auch eine Volksabstimmung über den Verbleib in der EU sein - und es sieht gegenwärtig für einen solchen Fall nach einem Votum für den "Italexit"aus.
Startschuss dieser politischen Radikal-Wende könnte der 4. Dezember sein, der Tag des Referendums über eine Verfassungsänderung. Wenn Renzi die Volksabstimmung verliert, kann er gleich zurücktreten oder sich noch eine Weile zappelnd über Wasser halten. Das wird nichts ändern. Die Linke wird am Ende sein, seine Partei wird sich wohl spalten.

Die Rechte - insbesondere die Grillo-Truppe - wird die Richtung bestimmen und könnte dafür sorgen, dass wieder viel mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen und damit auf die Wahlkämpferin Merkel neue Schwierigkeiten zukommen. Denn Grillo und Co. könnten eine in Italien schon früher übliche Praxis wiederbeleben und die ungeliebten Menschen, die übers Mittelmeer kommen, einfach weiterschicken: Richtung Norden. Statt die Asylsuchenden zu registrieren und ihren Antrag in Italien abzuwickeln, kann man ihnen auch eine Ausweisungsverfügung in die Hand drücken - "binnen 14 Tagen müssen Sie das Land verlassen"- und basta.

Vielen der Betroffenen wäre das wohl recht, denn sie wollen nicht in Italien bleiben, wo es kaum Jobs gibt, sondern weiter, nach Österreich, Deutschland, Holland oder Skandinavien. Renzi hat das EU-rechtswidrige Weiterschicken von Flüchtlingen gen Norden auf Betreiben aus Berlin und Brüssel gestoppt. Dafür hat er Geld und das Versprechen bekommen, dass Zigtausende von Flüchtlingen auf andere EU-Länder verteilt werden. Dieses Versprechen wird aber nur äußerst zögerlich eingelöst. Deutschland hat gerade mal rund zweihundert Asylsuchende aus Italien aufgenommen. Jetzt rächt sich das womöglich.

Wie sich die Lage für Deutschland entwickelt, ist auch abhängig davon, wie die Schweiz und Österreich ihre Grenzen kontrollieren - oder sichern. Fakt ist: Auch jetzt schaffen es immer mehr Asylsuchende weiter Richtung Norden. Berichten zufolge haben sich seit März illegale Einreisen in die Schweiz am Grenzort Chiasso verzehnfacht - und auch die sogenannten unkontrollierten Ausreisen, wie es die Schweizer Behörden nennen, steigen - vor allem nach Deutschland.

Neuerdings klettern, so hat es die "Süddeutsche Zeitung" beschrieben, Migranten in Italien auf Güterzüge und kommen so über den Brenner nach Deutschland. Seit Monaten sind Menschen aus Eritrea oder Nigeria, die über das Mittelmeer nach Italien fahren, unter den Top-Fünf Herkunftsländern bei den Easy-Registrierungen der in Deutschland Neuangekommenen.

Was will Merkel tun? In die nahe Zukunft gerichtete Ideen sind rar. Im CDU-Leitantrag für den Parteitag heißt es: Ziel sei es, die illegale Migration aus afrikanischen Ländern erfolgreich zu bekämpfen. Dazu sollten nach dem Vorbild des EU-Türkei-Deals Abkommen mit afrikanischen Staaten geschlossen und "Auffangmöglichkeiten" vor Ort geschaffen werden.

Das Wort Italien fällt in dem Leitantrag nicht.

Quelle : spiegel.de

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