Aserbaidschanische Studenten an den Hochschulen Deutschlands Ende des 19. und Anfang des 20. Jh.

  28 November 2016    Gelesen: 3891
Aserbaidschanische  Studenten an den Hochschulen Deutschlands  Ende des 19. und Anfang des 20. Jh.
Von Närmin Tahirzadä,

Doktor der Geschichtswissenschaften

Im Russischen Reich war der Weg zu einer pädagogischen Tätigkeit im staatlichen System der Mittleren Bildung für Aserbaidschaner (für die Muslime generell) praktisch verschlossen. Lehrer für die mittleren Bildungseinrichtungen lud man gewöhnlich aus Russland ein. Bis zum Jahr 1918 gab es in Aserbaidschan keine nationalen Mittelschulen, in denen Spezialisten die Kenntnisse hätten erwerben können. In der russischen Bildungs-Gesetzgebung war dies nicht vorgesehen und geisteswissenschaftlich ausgerichtete Forschungsinstitutionen gab es in Aserbaidschan noch nicht.

Der erste Aserbaidschaner, der eine geisteswissenschaftliche Bildung in Deutschland erhielt (und somit überhaupt eine Bildung), war ein Einwohner des Dorfes Schahtachty im Kreis Nachitschewan des Gouvernements Eriwan, Mämmäd Aga Schahtachtinski (1846-1930).Nachdem er erfolgreich das Gymnasium in Tiflis absolviert hatte, begab er sich nach Sankt Petersburg, um dort zu studieren. Eine Krankheit hinderte ihn allerdings daran, die Lehrveranstaltungen zu besuchen. Inzwischen hatten sich auch seine weiteren Bildungsplä-ne geändert. M. Schahtachtinski blieb in Sankt Petersburg und beschäftigte sich intensiv mit der deutschen Sprache, die er schließlich auf einem Niveau beherrschte, das es ihm ermöglichte, die Leipziger Universität zu besuchen. Er beendete seine geisteswissenschaftliche Bildung im Jahr 1869. In Leipzig begann er danach mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit als Orientalist.



In den nachfolgenden Jahren (1873-1875) besuchte M. Schahtachtinski die Vorlesungen zu orientalischen Sprachen an der Universität Sorbonne in Frankreich. Sein besonderes Interesse galt dem Problem der Reformierung des arabischen Alphabetes, darin sah er das Haupthindernis für die Verbreitung der Ideen der europäischen Aufklärung unter den muslimischen Völkern.

Seine Forschungen über die Phonetik fanden in der wissenschaftlichen Welt Beachtung. M. Schahtachtinski wurde zum ordentlichen Mitglied der Weltweiten Phonematischen Gesellschaft (1900) und der Kaukasischen Abteilung der Russischen Kaiserlichen Geographischen Gesellschaft (1903) gewählt, und durch ehrenvolle Auszeichnungen gewürdigt. Ab 1902 lehrte er orientalische Sprachen an speziellen französischen Bildungseinrichtungen.

Charakteristisch ist für M. Schahtachtinski seine vielseitige gesellschaftliche Tätigkeit. Er pflegte die Zusammenarbeit mit Zeitungen in Sankt Petersburg, Moskau, Tiflis, Istanbul und Baku, und begann ab 1903, die allgemein-politische Zeitung „Schargi-Rus“ („Russischer Osten“) in aserbaidschanischer Sprache zu verlegen. Auf ihren Seiten wurde den Fragen zur Literatur, zu Sprache und Kunst viel Platz eingeräumt. 1906 wurde er als Abgeordneter in die Zweite Staatsduma Russlands gewählt.

In den Jahren 1908 bis 1918 reiste M. Schahtachtinski durch den Orient.

Zurückgekehrt nach Aserbaidschan, beteiligte er sich 1919 sehr aktiv an der Gründung der Universität Baku und wurde einer der ersten aserbaidschanischen Professoren im System der Hochschulbildung der Republik.

Anerkannt als Sprachwissenschaftler, wurde M. Schahtachtinski zur Arbeit an der Reform der aserbaidschanischen Schriftsprache auf der Grundlage des lateinischen Alphabets herangezogen, diese Reform wurde 1929, ein Jahr vor seinem Tode verwirklicht. (1)

In Deutschland hat auch Äbulfät Schahtachtinski (1858-1913), ein Bruder von M. Schahtachtinski, seine Hochschulbildung erhalten. Nach Abschluss der Realschule in Tiflis 1877, besuchte er das Petersburger Technologische Institut. Wegen seiner eifrigen Teilnahme an studentischen Massen-Aktionen, verlor er 1878 das Recht an den höchsten staatlichen Bildungseinrichtungen ausgebildet zu werden und wurde aus dem Institut entlassen. Trotzdem konnte A. Schahtachtinski später seine Ausbildung in Moskau fortsetzten, insbesondere am Lasarew-Institut für orientalische Sprachen. Er bestand noch ein Abschluss-Examen der Heidelberger Universität, ungefähr im Jahr 1883. Da er keine berufliche Verwendung für seine Ausbildung fand, bildete er sich danach weiter in der Bildungseinrichtung für die Junker. Er nahm am Japanischen Krieg 1904 bis 1905 teil, und diente sich hoch bis zum Oberst. In den letzten Jahren seines Lebens beschäftigte er sich mit literarischen Übersetzungen. Er übersetzte auch zum ersten Mal Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang v. Goethe in die aserbaidschanische Sprache. (2)

Mit Deutschland ist auch ein bestimmter Abschnitt im Leben und in der Tätigkeit Mämmäd Tagi Älijews (Älisadä (1858-1918)) verbunden. Zugewandert aus dem Kreis Schamachy des Gouvernements Baku, erhielt er 1883 seine Hochschulbildung an der Peterschen Landwirtschaftsakademie Moskau. Er diente eine Zeitlang in Moskau, im System des Ministeriums der Finanzen Russlands, danach begab sich Älijew auf eine langjährige Reise durch Deutschland und Frankreich, während dieser Zeit sammelte er Nachrichten aus dem ökonomischen und kulturellen Bereich. Älijew veröffentlichte in Schlesien ein Buch über die Wirtschaft dieses Gebietes auf Deutsch. Nachdem er 1888 in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, widmete er sich auch weiter der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Tätigkeit. 1906 wurde Älijew in die Erste Staatsduma Russlands gewählt.



Älijew ist ein wichtiger Vertreter der nationalen Befreiungsbewegung in Aserbaidschan, der Kampfgenosse von Häsän Bäj Мälikow-Särdabi (Särdabi war der Gründer der ersten Zeitung in Aserbaidschanisch im Jahr 1870 – Anmerk. d. Übersetzers). Vieles in der Tätigkeit Älijews bleibt ungeklärt; das ist dem verheerenden Brand von 1918 in Schamachy geschuldet, durch den seine persönlichen Archive und seine Bibliothek vernichtet wurden. (3)

Mit dem Studium der orientalischen Kunst und der Archäologie in Deutschland beschäftigte sich in 1920er Jahren auch Mämmäd Agaoglu (1896-1949). Der Bewohner der Stadt Eriwan absolvierte 1916 die Abteilung der orientalischen Philologie der Moskauer Universität und hat dort auch promoviert.

Die Reisen durch die Länder des Nahen und Mittleren Ostens haben seine Kenntnisse in der Geschichte und Kultur dieser Länder bereichert. Agaoglu stand Pate bei der Museumsgründung und dem Schutz der Denkmäler des Altertums in Aserbaidschan. In den Jahren 1919/1920 nahm er an der Gründung des ersten nationalen Museums „Istiglal“ (Unabhängigkeit) beim Parlament der Aserbaidschanischen Demokratischen Republik in Baku teil.

Ende 1920 reiste Agaoglu nach Istanbul zu einem Aufbaustudium der orientalischen Kultur. Nach seinem Abschluss an der Istanbuler Universität, vervollkommnete er in den Jahren 1923 bis 1924 seine Kenntnisse in Berlin, und 1926 verlieh ihm die Wiener Universität den Grad eines Doktors der Philosophie. Agaoglu untersuchte die Kunst-Denkmäler der islamischen Länder Asiens, die in den Museen und privaten Sammlungen Europas aufbewahrt werden, dasselbe tat er später auch in Amerika. Er wurde eingeladen, die größten Museen der orientalischen Künste zu gründen und zu leiten, internationale Ausstellungen und Kongresse zu organisieren, an den angesehensten Universitäten der Welt Lehrstühle für orientalische Kunst zu eröffnen und dort zu lehren, so auch an der Göttinger Universität.

Agaoglu erlangte weltweite Berühmtheit wegen seiner einzigartigen Forschungen über die Kunst des muslimischen Ostens, er hat eine bedeutende Zahl von Spezialisten dieses Bereichs ausgebildet.

1931 gründete er die Zeitschrift „Ars Islamije“ (die islamischen Künste), die er bis ans Ende seines Lebens redigierte. In dieser Zeitschrift machte er die Meisterwerke der islamischen Künste bekannt.



In seinem Schaffen haben die Jahre des Studiums und der Arbeit in Deutschland ohne Zweifel eine bemerkenswerte Spur hinterlassen. (4)

Mit den oben genannten Spezialisten wird das Verzeichnis der Aserbaidschaner, die in den höchsten Bildungseinrichtungen Deutschlands Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. ausgebildet wurden, nicht ausgeschöpft. Unter denjenigen, die ihre Hochschulbildung in Deutschland erhalten haben, waren die Agrar-Ingenieure Schamil Wäzirow, der Sohn des bekannten aserbaidschanischen Dramatikers und einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens N. B. Wäzirow (5), und Dschawad Wäzirow, der Textilingenieur Balakhan Bakikhanow, Häbib Kärimow, der zum Begründer der industriellen Käse- und Milchverarbeitung in Aserbaidschan wurde, die Ökonomen T. Dschäfärow, M. Mollajew, Aga Kärim Sadikhow und andere.

Die Informationen über sie, die sehr spärlich sind, wurden von ihren Verwandten zur Verfügung gestellt und wegen der Dauer der Jahre sind Einzelheiten nicht mehr vorhanden. Ihre persönlichen Archive überlebten nicht, genauer, sie wurden vernichtet. Es sind bestenfalls noch Fotografien erhalten geblieben.

Die aserbaidschanische Jugend, die ihre Hochschulbildung Ende des 19. und Anfang des 20 Jh. in Deutschland erhalten hatte, ergänzte die Reihen der nationalen Intelligenz durch hochqualifizierte Spezialisten, die über eine hohe und vielseitige Kultur verfügten. Zusammen mit ihren Kollegen, den Absolventen russischer und ausländischer Hochschulen, haben sie einen ins Gewicht fallenden Beitrag zur Entwicklung der Wirtschaft und der Kultur Aserbaidschans geleistet. In diesem Bereich waren auch viele deutsche Ingenieure, Ärzte, Lehrer, Musiker und andere Spezialisten tätig.

Unter den Absolventen der deutschen Hochschulen haben sich A. H. Akhundow, S. Hüsejnow, G.Orudschow, M. Khanlarow und M.A. Schahtachtinski durch bedeutende Errungenschaften in der Wissenschaft ausgezeichnet. Der hohe Professionalismus, das Gefühl der Verantwortung und der Pflicht und ihr Humanismus sind für alle oben angeführten Spezialisten charakteristisch.



Ihre nützliche Tätigkeit überdauerte auch die nachfolgenden Jahre. Eine große Gruppe der aserbaidschanischen Jugend wurde 1919 von der Regierung der Aserbaidschanischen Demokratischen Republik in die höchsten ausländischen Bildungseinrichtungen geschickt, einschließlich Deutschland (nach Berlin, Freiberg in Sachsen und Darmstadt) zum Erwerb der Kenntnisse in Berufen, in denen sich der Mangel am deutlichsten zeigte.

Nach der Errichtung der sowjetischen Macht in Aserbaidschan fand ein Teil der aserbaidschanischen Studenten eine zweite Heimat in Deutschland.

Die wissenschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Beziehungen zwischen Aserbaidschan und Deutschland existierten in den 1920er Jahren weiter. Außer den Studenten reisten zu einer wissenschaftlichen Dienstreise aserbaidschanische Spezialisten nach Deutschland, insbesondere die bekannten Ärzte I. Akhundow, M. Hadschigasimow, K. Gasimov, M. A. MirGasimow, M. Toptschubaschow und andere. Die Ingenieure, insbesondere die Absolventen der höchsten deutschen Bildungseinrichtungen, wurden in Deutschland zur Auswahl und zum Erwerb technischer Ausrüstung für die industriellen Betriebe Aserbaidschans herangezogen.

Mit Erlangung der Souveränität Aserbaidschans nach dem Zerfall der Sowjetunion haben die aserbaidschanisch-deutschen Verbindungen einen neuen Impuls für ihre Entwicklung bekommen, sie wurden stabiler, vielseitiger und breiter.


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