Nur: Hat Griechenland überhaupt ein Schuldenproblem? Oder ist die sprichwörtlich gewordene Schuldenlast "die größte Lüge des Jahrhunderts", wie Paul Kazarian sagt - ein bequemer Mythos für die griechische Elite, hinter der sie ihre Inkompetenz und ihr Missmanagement verstecken kann?
Kazarian ist Gründer der US-Investmentgesellschaft Japonica Partners, zuvor war er Banker bei Goldman Sachs. Der 61-jährige US-Amerikaner ist der größte private Gläubiger Griechenlands. 2012, als alle die griechischen Ramschanleihen loswerden wollte, platzierte Japonica ein Kaufgebot im Nennwert von drei Milliarden Euro. Kazarian witterte ein gutes Geschäft - und hat es bis heute nicht bereut: "Das war die profitabelste Investition, die wir jemals getätigt haben."
Laut Kazarian liegt Griechenlands Schuldenstand - wenn man ihn denn korrekt berechne - nicht bei 177 Prozent der Wirtschaftsleistung, sondern nur bei höchstens 71 Prozent. Was heißt aber korrekte Berechnung? Kazarian zufolge sollte nicht mehr der Nennwert der griechischen Schulden der Ausgangspunkt sein - also deren absolute Höhe von rund 312 Milliarden Euro (Stand Ende 2015).
Stattdessen müsse der Schuldenstand nach dem Zeitwert der Verbindlichkeiten berechnet werden - und damit auch der versteckte Erlass, den die Euro-Partner Griechenland gewährt haben. Sie haben nicht nur die Zinsen erheblich gesenkt. Griechenland darf seine Schulden zudem über einen wesentlich längeren Zeitraum zurückzahlen und muss auch erst zehn Jahre später damit anfangen als ursprünglich vereinbart - durch die Inflation bedeutet das eine deutlich geringere Belastung.
Den Zeitwert heranzuziehen, sieht auch der Internationale Standard zur Bilanzierung von Staatsschulden (IPSAS) vor. "Der Zeitwert ist die Grundlage des Finanzwesens", sagt Kazarian.
Das klingt erst einmal wenig nachvollziehbar. Denn die Schlagzeilen werden von Prognosen beherrscht, wonach Griechenlands Schuldenstand bald die Höhe von 200 Prozent der Wirtschaftsleistung erreichen wird. "Wir sind überzeugt, dass Griechenlands Schulden nicht tragfähig sind", sagte die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, erst Anfang Oktober.
Doch der von Medien und Politik üblicherweise verwendete Nennwert sei im Falle Griechenlands nicht sinnvoll, argumentiert Kazarian. "Jedes Mal, wenn die Kreditbedingungen verändert werden, ändert sich auch die Höhe der Schulden", erklärt er in der Bar eines Athener Luxushotels, in dem er die Eröffnungsrede bei einer von der griechisch-amerikanischen Handelskammer organisierten Wirtschaftskonferenz gehalten hatte.
Kazarian, ein schmaler Mann mit runder Brille, hat einen ganzen Stapel an Dokumenten und Tabellen mitgebracht. Sie stützen seine Mission, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Griechenland kein Schuldenproblem mehr hat. Einer Mission, der er auch als Sonderberater einer Arbeitsgruppe des Centre for European Policy Studies (Ceps) - einer Brüsseler Denkfabrik - dient, die sich mit der Buchhaltung der EU-Staaten befasst.
Die Diskussion ist weniger abstrakt und theoretisch, als es scheint: Wenn der Schuldenstand eines Landes als nicht tragfähig angesehen wird, kann das zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Die Bonitätsbewertung des Landes verschlechtert sich, wodurch Kredite und damit dringend benötigtes Kapital auch für die Privatwirtschaft teurer werden - was ausländische Investoren vertreibt.
Außerdem wird Griechenland gezwungen, noch mehr Finanzhilfen von den Eurostaaten zu fordern. Die geben neue Kredite jedoch nur unter der Bedingung hoher Haushaltsüberschüsse und zwingen die Regierung damit zu harschen Sparprogrammen sowie unpopulären und häufig umstrittenen Strukturreformen. Nicht zuletzt führt ein hoher Schuldenstand zu erheblich höheren Zinsaufschlägen für neue Kredite, sobald Griechenland wieder an die Kapitalmärkte zurückkehrt.
Aber wenn die Schuldenlast in Wirklichkeit viel niedriger ist - wieso weist die griechische Regierung nicht selbst lautstark darauf hin? "Aus dem gleichen Grund, weshalb Griechenland seinen Schuldenstand vor der Krise zu niedrig ausgewiesen hat", sagt Kazarian. "Damals, um in die Eurozone zu kommen und dadurch günstig Kredite aufnehmen zu können. Heute dienen die übertriebenen Zahlen den Forderungen an die Euro-Partner nach mehr Geld und Solidarität."
Außerdem lenkt das aufgebauschte Schuldenproblem die Wähler davon ab, dass echte, effektive Reformen notwendig sind, sagt Kazarian. Selbst wenn Griechenland die Schulden komplett erlassen würden - das eigentliche Problem bliebe: zu wenig Transparenz, schlechte Regulierung und ein Mangel an Professionalität. "Die Leute haben kein Vertrauen in die Führung", konstatiert Kazarian. "Würden Sie Finanzminister Tsakalotos oder Notenbankchef Stournaras Ihre Ersparnisse anvertrauen?"
Kazarian ist beileibe nicht der Einzige, der die offiziellen Zahlen zur griechischen Schuldenlast als zu hoch ansieht. So heißt es in einer Analyse aus dem Juli 2015, an der die frühere Wirtschaftsweise Beatrice Weder di Mauro beteiligt war, der Kapitalwert der griechischen Schulden betrage lediglich 93 Prozent des Bruttosozialprodukts.
In einer Analyse für die Brookings Institution, eine US-Denkfabrik, zeigen sich die gleichen Autoren überrascht davon, dass sich sowohl die öffentliche Diskussion als auch die Verhandlungen der Europartner stets auf die 200-Prozent-Marke beziehen. Sowohl der IWF als auch die Vertreter des Euro-Rettungsschirms ESM "berücksichtigen nicht den effektiven Schuldenschnitt, der bereits gewährt wurde".
Der CDU-Wirtschaftsrat schrieb im Februar 2015 an die Unionsfraktion im Bundestag: "Entscheidend ist nicht der Nennwert eines Kredits, sondern der Zeitwert." Die griechische Schuldenlast sei wesentlich niedriger als gedacht. "Dieser `Wettbewerbsvorteil` wird verschwiegen."
Selbst der IWF schwenkt auf diese Linie ein - wenn auch als Nachzügler. In ihrem Bericht zur Schuldentragfähigkeit Griechenlands vom Mai 2016 stellen die IWF-Experten fest, dass die ursprünglich im Jahr 2012 vereinbarten Kreditbedingungen "nicht länger von Bedeutung sind, um die Schuldentragfähigkeit zu ermitteln". Schließlich hätten die Eurostaaten seitdem langjährige Zahlungsaufschübe und Zinssenkungen gewährt.
Ginge es nach Kazarian, sollte Griechenland in einem ersten Schritt seine öffentlichen Finanzen nach international akzeptierten Regeln ausweisen - wie etwa dem IPSAS-Standard. Dann würde offensichtlich, dass Griechenlands Schuldenlast weitaus geringer sei als die anderer Länder. Zudem würde es die Transparenz erhöhen und eine effiziente Verwaltung fördern.
Kazarian hat allerdings wenig Hoffnung, dass es dazu kommt: "Das ganze Narrativ, die Schulden seien untragbar und abscheulich, wäre nicht mehr haltbar. Die Regierung braucht aber das Schuldenthema. Es dient als Ausrede für jedes Problem."
Quelle : spiegel.de
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