Fairlie musste zunächst mal erklären, was er damit meinte, nämlich nicht nur die Spitzen der Regierung, sondern die ganze Matrix an politisch-wirtschaftlich-sozialen Beziehungen, die Elite, die die Macht ausübt. Das Wort war damals von ihm ohne allzu kritische Absicht gewählt worden. Er gab auch zu, den Begriff in einer schriftlichen Quelle gefunden zu haben, in Ralph Waldo Emersons Rede „The Conservative“ aus dem Jahr 1841.
Der Begriff fand nun Eingang in das „Oxford English Dictionary“, Zeitungen übernahmen es in ihren Wortschatz, es wurde gängige Münze in der Populärsoziologie. In einem rückblickenden Kommentar im „New Yorker“ verteidigte Fairlie 1968 die konservative Auslegung des Wortes, ein gut organisiertes Establishment könne das Staatsschiff gegen „schlimmere Einflüsse“ stabilisieren. Das Wort mag neu gewesen sein, das Phänomen nicht. Als gesellschaftliche Größe tauchte das amerikanische Establishment 1940 auf. Der Krieg rückte näher, Franklin Roosevelts New-Deal-Koalition wurde brüchig, ein Teil zog sich in den Isolationismus zurück.
Seinen Platz nahm eine Gruppe ein, die Roosevelts Vorstellung von einer bedeutsamen weltpolitischen Rolle der USA teilte. Diese außerordentlich homogene Gruppe – erzogen in den Internaten und Universitäten des Ostens und verbunden mit den Anwaltbüros und Banken der großen Metropolen – wurde die Vorhut dessen, was sich später zum Establishment entwickelte. Sie kam nicht aus einer Partei, sie diente ganz verschiedenen Präsidenten und schuf eine Allianz von Regierung und Industrie, vor allem der Rüstungsproduktion. Dazu kam noch die Meinungsbildung, der amerikanische Journalismus, bis dahin dominiert von Kriminalität und Sport, wurde einbezogen und Establishment-orientiert.
Der linke Zeitgeist
Als nach Henry Fairlies Coup das Wort Establishment überall Eingang fand, begann man auch in den USA, diesen Apparat zu hinterfragen. „Mitte der Sechzigerjahre war es so weit gekommen, dass keiner, der nicht für total verkalkt gelten wollte, sich leisten konnte, den Begriff nicht zu verwenden.“ („Die Zeit“, 17. 11. 1967.) Der linke Zeitgeist verwendete das Wort konträr zu den Intentionen des Erfinders, der sprachlos war, dass er plötzlich als „First Angry Young Man“ tituliert wurde. Natürlich verlauteten Fairlies konservative Gesinnungsgenossen von Anfang an, dass ein soziales Objekt namens Establishment inexistent sei, Peter Sloterdijk nennt das in seinen Tagebuchnotizen einen „instinktsicheren Schutzreflex der machthabenden Netzwerke, die auf der Stelle erkannten, die einzig sichere Methode, Angriffen auszuweichen, bestehe darin, nicht vorhanden zu sein“.
Der Kampf gegen das Establishment gipfelte in den USA in der Bürgerrechts-, der Anti-Vietnamkriegsbewegung und der Hippie-Subkultur und kam nach Europa. Wenn die Anekdote nicht stimmt, ist sie doch gut erfunden: Ein Student der Münchner Universität öffnet 1967 die Tür des voll besetzten Audimax und ruft in den Saal: „Professoren, Assistent – das Establishment – pennt.“ Guter Auftritt, fast so gut wie der Sponti-Spruch „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“
Die Ausbreitung in Europa ging Hand in Hand mit einer Rezeption bereits vorhandener Theorietraditionen vornehmlich marxistischer Couleur. In einem „Spiegel“-Gespräch definierte der Lieblingstheoretiker der Linken, Herbert Marcuse, das Establishment als „die großen Konzerne, ihre Publizisten, Politiker und Konsumenten“. Also nicht nur die (nach der marxistischen Analyse) herrschende politische Klasse, sondern auch all jene, die bewusstlos mitmachen und so das gesellschaftliche System mittragen. Ein Weltbild der Dichotomie, die revolutionäre Bewegung stand dem „verkrusteten“ Establishment mit seinen Repräsentanten gegenüber, Politikern, Schulbehörden, Polizisten, Medien.
„Viel Grausiges hat das Wort“
Dann kam das Wort aus der Mode, es ruhte vierzig Jahre in den Archiven. Nicht ganz: Hans Weigel beschäftigte sich in seinem „Antiwörterbuch“ 1976 damit: „Das Establishment hat viel Grausiges an sich, rein als Wort, zum Beispiel seine Einzahl; denn sie täuscht eine Einheit, eine Gemeinsamkeit, eine Verbundenheit, einen Block aller Einfluss-, Macht-, Geld-, Positions-Inhaber vor. Bezichtige ich das Establishment, ist es ähnlich demagogisch und unsinnig wie: in einer konkreten Situation die Juden verantwortlich zu machen.“ Das Establishment sei gar nicht so mächtig, wie seine Gegner so lange behaupten, „bis es ihnen gelungen ist, sich im Schoß des Establishments zu etablieren.“ (Weigel)
2016 hat das Wort plötzlich Hochkonjunktur. „Verkommen“ ist es für Donald Trump, für Heinz-Christian Strache „korrupt und verfilzt“, die beiden Hofburg-Kandidaten werfen dem jeweils anderen vor, dazuzugehören. Der Brexit sei eine Stimme gegen das Establishment gewesen, heißt es nach dem britischen Anti-EU-Referendum: „Die ein Prozent in London sind reich geworden, bei uns ist nichts angekommen“, beschwert sich ein nordenglischer Fischer. „Wir wollten ihnen zeigen, wer die Entscheidungen fällt, und das sind wir.“
Im US-Wahlkampf war der Begriff „political establishment“ inflationär in Zeitungen und Netzwerken zu finden. Hillary Clinton und Bernie Sanders, beide jahrzehntelang in der politischen Klasse des Landes aktiv, wetteiferten, wer von ihnen weniger Repräsentant des Establishments sei. Der, der sich am raffiniertesten als Anti-Establishment-Kämpfer präsentierte, gewann folgerichtig die Wahl.
Aus der Sicht der Trump-Wähler und Brexit-Befürworter wurde der traditionelle Kern der Gesellschaft vom Establishment im Stich gelassen, verraten von den Eliten, und er folgt den Anti-Establishment-Politikern. Darin kann man immer noch etwas Positives sehen, wie der britische Politologe David Runciman gestern in der „London Review“: Die Wähler wollen nur ein System abstrafen, haben aber dennoch das Vertrauen, dass die grundlegende Anständigkeit und Beständigkeit der politischen Institutionen sie vor den schlimmsten Auswirkungen dieser Veränderung bewahrt.
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