Mustafa ist ein schwerer Fall für de Maizière

  14 Dezember 2016    Gelesen: 701
Mustafa ist ein schwerer Fall für de Maizière
Die Bundesregierung will jetzt ernst machen. An diesem Mittwoch soll der erste größere Charterflug mit ausreisepflichtigen Afghanen nach Kabul starten. Am leichtesten lassen sich straffällige Asylbewerber abschieben. Zumindest in der Theorie.
Wegen eines Glases will Mustafa sie "abstechen". Die Türsteher wollen seinen Cousin nicht mit seinem Drink aus dem Hamburger Club lassen. Erst kommt es zu Beschimpfungen, dann zu Gewalt. Mustafa mischt sich ein. Er zückt das Messer, das er in jenen Tagen oft bei sich trägt. Der damals 20-Jährige Afghane sticht zu – mehrmals. "Versuchter Totschlag", so das Urteil des Gerichts. Asyl oder ein langfristiges Bleiberecht in Deutschland kann Mustafa vergessen. Nachdem er einen Teil seiner Jugendstrafe abgesessen hat, wird er abgeschoben. Seine letzte Straftat in Deutschland soll die Messerstecherei trotzdem nicht bleiben.

Auch in Afghanistan macht Mustafa sich strafbar. Er wird zu vier Jahren Haft verurteilt. Während er vorübergehend auf Kaution freikommt, kann er fliehen. Nach kaum zehn Monaten in Afghanistan kehrt Mustafa nach Deutschland zurück, stellt einen zweiten Asylantrag. Er driftet wieder in ein Milieu ab, das er selbst als "kriminell" bezeichnet. Kokain, Hasch, Kampfsport. Es ergehen neue Urteile – wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln, wegen schwerer Körperverletzung, wegen Nötigung. Auch sein zweiter Asylantrag wird abgelehnt. Seine Ausländerbehörde würde ihn gern loswerden. Doch weil die Lage in Afghanistan so prekär ist, wird er geduldet: tage-, monate-, jahrelang. Mustafa ist heute 35 Jahre alt.

Auf den ersten Blick erscheint Mustafa wie der perfekte Fall für die Pläne des Innenministeriums: Das Haus von Thomas de Maizière will jetzt ernst machen, selbst dann, wenn es darum geht, Flüchtlinge aus Afghanistan abzuschieben. Es geht darum, Härte in der Flüchtlingsfrage zu demonstrieren. Für die Akzeptanz bei den Bürgern, Menschen in Not zu helfen, sei es auch wichtig, mit den Leuten ohne Anspruch auf Schutz, konsequent umzugehen, so ein Mantra des CDU-Politikers.

Straftäter sollen zuerst abgeschoben werden

Im Innenministerium ist von 12.000 ausreisepflichtigen Afghanen die Rede. Man geht mittlerweile davon aus, dass sie "interne Fluchtmöglichkeiten" in ihrer alten Heimat haben. Mit "internen Fluchtmöglichkeiten" ist gemeint, dass es für sie in einigen Regionen des Landes sicher sei. Im Oktober vereinbarte die EU deshalb ein Rücknahmeabkommen mit Kabul. Im Tausch für Hilfsgelder in Milliardenhöhe erklärte sich die Regierung Afghanistans dazu bereit, bei Abschiebungen stärker zu kooperieren. Wenn es um die notwendigen Papiere geht, will Kabul nicht mehr so kleinlich sein. Präsident Ashraf Ghani stimmte auch einer unbegrenzten Zahl an Charterflügen mit zunächst maximal 50 abgeschobenen Afghanen an Bord zu. Für ihre Ankunft soll ein sogar ein eigenes Terminal entstehen.

Aus Ausländerbehörden sind die Kriterien für die Auswahl dieser Person zu hören. Erst sollen junge männliche Straftäter wie Mustafa das Land verlassen. Welches Kalkül sich dahinter verbirgt, ist offensichtlich. Im Prinzip sind laut Gesetz alle Ausreisepflichtigen genau das: ausreisepflichtig. Aber der Akzeptanz der Abschiebungen dürfte es zuträglich sein, erst die besonders unbequemen Fälle abzuschieben. Denn das es "interne Fluchtmöglichkeiten" in Afghanistan geben soll, ist umstritten. Die Taliban erstarken, der Islamischen Staat (IS) mordet neuerdings auch am Hindukusch und die Zahl ziviler Opfer im Land steigt.

Die Ablehnung des Rücknahmeabkommens reicht von der oppositionellen Linken bis in Teile des Regierungslagers. "De Maiziere muss anscheinend den starken Mann machen", sagt Omid Nouripour von den Grünen n-tv.de. "Diese Abschiebungen haben mit der faktischen Sicherheitslage in Afghanistan nichts zu tun. Sondern mit der inneren Unsicherheit in der Union." CDU und CSU kämpfen mit der AfD um konservative Wähler.

Das Innenministerium gibt sich entschlossen. Von einer Sprecherin heißt es auf Anfrage, man sei bestrebt, das Abkommen mit Kabul "rasch" umzusetzen. An diesem Mittwoch soll der erste Sammelflieger vom Frankfurter Flughafen aus starten – mit Mustafa an Bord.

Doch Mustafa ist womöglich nicht das beste Beispiel dafür, die Pläne de Maizières zu bewerben. Er wirkt eher wie ein Beispiel dafür, wie kompliziert Abschiebungen selbst dann sein können, wenn es sich um einen mehrfachen Straftäter handelt.

Ein Anruf in der Abschiebehaftanstalt

Die Verbindung ist schlecht, aber Mustafas Handy funktioniert auch in der Abschiebehaftanstalt Büren in der Nähe von Paderborn. Mustafa atmet schwer als er die Stimmung auf seiner Station beschreibt. Sieben Afghanen aus Hamburg, die ausreisen sollen, wurden dort untergebracht. Zunächst. "Einer ist mittlerweile in der Iso", seufzt Mustafa. "Iso" steht für Isolationshaft. "Der ist im Hungerstreik", sagt Mustafa. Ein anderer sei im Observationszimmer. "Der hat Shampoo und Zigaretten gegessen." Alle seien "depressiv, verzweifelt, irgendwo gereizt, ne". Dieses "ne" setzt Mustafa oft an das Ende seiner Sätze. Er sagt "gropp" statt "grob", wenn er davon berichtet, wie er von der Polizei abgeführt und hierhergebracht wurde. Dass er den Großteil seines Lebens in Hamburg verbracht hat, ist unüberhörbar. "Ich lebe schon seit 23 Jahren in Deutschland."

Mustafa geht in den Tischtennisraum seiner Station. Da hat er die Ruhe, die er braucht, um zu erklären, warum er auf keinen Fall nach Afghanistan zurückkönne. Er listet eine Reihe von "Schicksalsschlägen" auf, die ihn "automatisch" zum Kriminellen gemacht hätten.

Mustafa wuchs in einer, wie er es nennt, "normalen mittelständischen" Familie in Kabul auf. 1985, als die USA und die Sowjetunion in Afghanistan einen Stellvertreterkrieg ausfochten, floh seine Familie. Zunächst ging es nach Indien, dann nach Russland und zuletzt nach Deutschland. Von seinem zehnten Lebensjahr an lebte Mustafa auf dem berüchtigten Flüchtlingsboot "Bibby", einem von vier gechartertem Container-Schiffen, die in der Nähe der Reeperbahn vor Anker lagen und auf denen zu Hochzeiten 2000 Menschen aus 40 Nationalitäten zusammenprallten. "Das war `ne ekelige Zeit", erinnert er sich. Als erstes fällt ihm der Dreck ein, der Kot überall. Dann sagt er: "Natürlich war Gewalt Alltag." Durch die Nähe zur Reeperbahn gab es auch die Nähe zu Drogen und organisierter Kriminalität. Es dauerte nicht lange, bis Mustafa in alldem selbst drinsteckte.

"Die Leute wissen doch gar nicht, wie das ist, als Flüchtlingskind aufzuwachsen", sagt Mustafa. "Diese Perspektivlosigkeit." Irgendwann verstehe man, was Marken-Klamotten sind, irgendwann interessiere man sich für Frauen und würde sie gern beeindrucken.

Ohnmacht und Obrigkeit

Nach der Messerstecherei und seiner zweiten Flucht nach Deutschland wird die Perspektivlosigkeit noch größer. Weil die Ausländerbehörde sich die Möglichkeit offenhalten möchte, ihn sofort abzuschieben, wenn sich die Gelegenheit ergibt, wird seine Duldung nur monatsweise ausgestellt. Mustafa muss ständig zur Behörde gehen. Eine Arbeitserlaubnis bekommt er nicht. "Du kannst einfach nicht normal leben", sagt er. Immer wieder fallen Worte wie Frust und Enttäuschung. "Man spricht die Sprache super, man hat einen Schulabschluss. Man hat eine Ausbildung angefangen und ist bemüht, sich zu integrieren. Und dann heißt es trotzdem immer klipp und klar: Dich wollen wir nicht haben."

Ein Arzt, bei dem Mustafa seit August in Suchttherapie ist, scheint weder Zweifel an seinen traumatischen Erlebnissen als Flüchtlingskind noch an denen der Ohnmacht zu haben. In einer Stellungnahme schreibt er: "Aus seinem Verhalten in seiner Vergangenheit, aber auch während der Therapie, ergibt sich der begründete Verdacht einer bei ihm vorliegenden posttraumatischen Anpassungs- beziehungsweise Belastungsstörung." Der Arzt empfiehlt, die Therapie unbedingt fortzusetzen statt ihn abzuschieben – zumal Mustafas engere Familie, die ihm Halt geben könnte, in Deutschland lebt.

Seitdem die Bundesregierung ihr Asylpaket II beschlossen hat, sind posttraumatische Belastungsstörungen kein zwingendes Abschiebehindernis mehr. Natürlich rechtfertigen sie auch keine von Mustafas teils extrem brutalen Taten. Doch seine Biografie ergänzt den auf den ersten Blick perfekten Fall für den Innenminister um eine menschliche Komponente.

Vier Jahre für außerehelichen Sex

Auf dem Papier ist auch die vierjährige Haftstrafe, zu der Mustafa in Afghanistan verurteilt wurde, geeignet, Härte zu demonstrieren. Tatsächlich ist sie genauso wie sein Hamburger-Slang ein Indiz dafür, dass er in Deutschland nicht nur Desintegration erfahren haben kann. "Man wird automatisch langsam zum Deutschen, ob man das möchte oder nicht", sagt er selbst.

Nach seiner ersten Abschiebung lernt er in Afghanistan ein Mädchen kennen. Er verliebt sich. Dann passierte etwas, das seine Vorstellungskraft schlichtweg überschreitet. Als er mit ihr schläft, rufen die Nachbarn die Polizei. Außerehelicher Sex ist in Afghanistan verboten. Beide, er und seine damalige Freundin, werden verurteilt.

Wie wenig er über die afghanische Kultur weiß, macht eine zweite Episode deutlich: Während seiner Zeit in Afghanistan stößt er auf die Tradition der Lustknaben. "Ich hab gesehen, wie reiche Leute kleine Jungs in Frauenklamotten packen und für sich tanzen lassen", sagt er und beschreibt damit noch den harmloseren Teil dieses furchtbaren Brauchs. "Ey, was ist das denn?" Mustafa verstören diese Erlebnisse so sehr, dass er anfängt, mit der Religion, die er von deinen Eltern mitbekam, zu hadern. "Ich konnte mich mit dieser Kultur nicht mehr identifizieren", sagt er.

Der Abfall vom Islam

Mustafa wendet sich vom Islam ab. 2012 wird er in Deutschland getauft. Heute versucht der Vorstand seiner Gemeinde, seine Abschiebung zu verhindern. In einer Stellungnahme beschreibt er Mustafa als hilfsbereites und aktives Gemeindemitglied – obwohl die Gemeinde am Wohnort von Mustafas Eltern in Sachsen ist. Die Worte in dem Papier fallen viel überschwänglicher aus als Mustafas eigene. Der sagt, er sei kein besonders religiöser Mensch im klassischen Sinne. Was ihn antreibe sei vor allem eines: "Gottesfurcht". Ob nun Allah oder Jesus, er wisse, dass es da etwas gebe, das man nicht ignorieren dürfe.

Die Abkehr vom Islam stellt ein besonderes Hindernis für Mustafas Abschiebung dar. Im jüngsten Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik heißt es im Kapitel zu Afghanistan: "Religionsfreiheit ist in der afghanischen Verfassung verankert, gilt aber ausdrücklich nur für Anhänger anderer Religionen und nicht als freie Religionswahl für Muslime." Ein paar Zeilen später dann: "Konversion steht laut Scharia unter Todesstrafe." Eigentlich ist eine Abschiebung unter diese Voraussetzungen nicht rechtmäßig.

Nun wäre Mustafa nicht der erste Flüchtling, der die Religion wechselt, um bessere Chancen auf Asyl zu haben. Doch die Unsicherheit, ob diese Entscheidung in seinem Fall kühle Berechnung ist, ist groß. Er selbst hat seine Konversion seiner Rechtsanwältin zufolge nie eingebracht, um einen neuen Asylantrag zu stellen. Kurz nachdem er in die Abschiebehaft nach Büren gebracht wurde, stellte sie deshalb einen Eilantrag, damit sein Bekenntnis zum Christentum doch noch berücksichtigt wird.

Einer raus, drei rein

Nur noch sechs Stunden, bevor es für Mustafa in den Bus nach Frankfurt gehen soll. Knacken, rauschen – die Verbindung ist noch schlechter als beim vorherigen Telefonat. Und das gilt genauso für Mustafs Stimmung. "Ich sitze in meiner Zelle und bin verzweifelt", sagt er. Hoffnungslos ist die Lage nicht. Von den sieben Afghanen auf seiner Station hätte einer gehen dürfen. Warum, das weiß Mustafa nicht. Für den einen seien aber drei neue gekommen.

Was ist, wenn er tatsächlich abgeschoben wird? "Man hat zwei Optionen. In den Flieger rein, also Tod in Afghanistan. Oder sich querstellen und Schläge kassieren von der Bundespolizei." Ob er damit der Abschiebung entgehen könnte, ist fraglich.

Und was ist, wenn seine Anwältin doch noch etwas für ihn erreichen kann? "Dann mach ich eine kleine Autowerkstatt auf", sagt Mustafa. Kürzlich hat ihm der TÜV-Nord eine Zulassung für eine Umschulung ausgestellt. Und der Arzt, der bei ihm eine posttraumatische Störung vermutet, glaubt an eine erfolgreiche Therapie, wenn Mustafa bleiben darf. Er sei "glaubhaft bemüht, sein Leben zu ändern", heißt es in seiner Stellungnahme.

Mustafa selbst spricht von einem Erlebnis, das sein Leben verändert hat. Vor zwei Jahren bekam er mit seiner damaligen Frau einen Sohn. "Das war ein göttliches Gefühl", sagt Mustafa. Sowas habe er noch nie erlebt. "Als mein Sohn geboren wurde, habe ich mich in ihm gesehen. Ich sah in ihm auch eine zweite Chance für mich. Ich wollte ihm alles ermöglichen."

Er habe mit seinen alten Freunden aus dem Milieu gebrochen, versichert Mustafa. Vor seiner Suchtbehandlung habe er zu Jahresbeginn auch an einer Aggressionstherapie gemacht. Während er davon erzählt, wie er sich verändere, wirkt er sehr nachdenklich. "Meine Einstellung ist eine andere", sagt er. Vorsichtig fügt Mustafa hinzu: "Ob mich das zu einem besseren Menschen macht, das kann ich nicht sagen."

Eine von Mustafas schlimmsten Taten passiert erst nach der Geburt seines Kindes. Die Beziehung mit seiner damaligen Frau funktioniert nicht. Sie verbietet ihm den Umgang mit dem Sohn.

Verprügelt und mit dem Tode bedroht

Ein Anruf bei Mustafas Rechtsanwältin kurz vor der geplanten Abschiebung. Sie liest aus dem recht frischen Gerichtsurteil vor und ist selbst überrascht, was Mustafas Ex-Frau zu Protokoll gab. Die Anwältin betreut Mustafa noch nicht lange. Mustafa habe seine frühere Frau zu einem nahen See gelockt, an dem sie früher oft zusammen picknicken gewesen seien. Dort angekommen, habe er ihr mit dem Tode gedroht und auf sie eingeprügelt – unter Kokaineinfluss. Die Anwältin geht nüchtern eine lange Liste teils schwerer Verletzungen durch.

Bleibt Mustafa in Deutschland und schlägt der Prognose seines Arztes zum Trotz wieder zu, wird wohl manch einer die Behörden fragen: "Warum habt ihr den nicht abgeschoben?" Doch schiebt man ihn nun ab, aus welchen Gründen auch immer, steht eine andere Frage im Raum: Wurde einem Menschen, der zwar sehr Schlimmes getan hat, aber auch viel erleiden musste, eine zweite Chance genommen? Verschärfend kommt hinzu: Was in Afghanistan mit Mustafa passieren könnte, ist völlig unklar.

In der zuständigen Ausländerbehörde in Hamburg will man nur wenig zum Fall Mustafa sagen. Einer der Sätze, die sich der Sprecher entlocken lässt: "Das ist wirklich jemand, der massiv gegen bestehende Gesetze verstoßen hat." Lange versuche man schon, ihn abzuschieben, man könne diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Der Mann sagt aber auch: "Eigentlich sind wir hier in einer Lose-Lose-Situation. Wir können es nicht richtig machen."

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