Wirtschaft wächst über Nacht 20 Prozent

  16 Dezember 2016    Gelesen: 561
Wirtschaft wächst über Nacht 20 Prozent
Die Wirtschaftsnachrichten sind zuletzt deprimierend für die Türken: Ihre Währung wertet ab, Investitionen und Urlauber bleiben weg, die Wirtschaft schrumpft. Nun verkündet das Statistikamt, die Bürger seien viel reicher als bislang angenommen.
Die türkische Volkswirtschaft steckt in ernsten Problemen: Laut den jüngsten Zahlen schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Quartal um 1,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Investitionen aus dem Ausland sind massiv zurückgegangen. Die türkische Lira ist auf ein Rekordtief gefallen. Nicht wenige machen Präsident Recep Tayyip Erdogan für die Krise verantwortlich. Sein hartes Vorgehen gegen innenpolitische Gegner, Massenverhaftungen, Entlassungen im Öffentlichen Dienst und der eskalierende Kurdenkonflikt verschrecken Touristen und legen die heimische Wirtschaft teilweise lahm.

Genau zu diesem kritischen Zeitpunkt verkündet das türkische Statistikamt TÜIK eine für Erdogan willkommene Nachricht: Neue Berechnungen hätten ergeben, die Wirtschaft der Türkei sei fast 20 Prozent stärker als bisher angenommen. Demnach belief sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im vergangenen Jahr auf 861 Milliarden und nicht wie zuvor offiziell angegeben auf 720 Milliarden US-Dollar. Das statistische durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Türken liegt damit bei 11.014 und nicht bei 9130 Dollar.

Das bedeute natürlich nicht, dass die Menschen über Nacht mehr Geld hätten, sagte TÜIK-Chef Mehmet Aktas bei der Bekanntgabe der Zahlen, nun aber habe man "eine realistischere Einschätzung davon, wie viel Geld die Menschen in der Tasche hätten". Die Hauptänderung bei der Berechnung des BIP liegt laut Aktas darin, dass nun das Jahr 2009 - als die Türkei in Folge der Weltwirtschaftskrise kurzzeitig in der Rezession steckte - als Basisjahr dient.

Angleichung an EU-Standards

Die daraus folgenden Änderungen zeigen ein völlig neues Bild von der wirtschaftlichen Entwicklung. So wurden die Wachstumsraten für 14 der vergangenen 15 Jahre deutlich nach oben revidiert. Im Durschnitt legte das BIP von 2010 bis 2015 offiziell um 7,1 Prozent jährlich zu statt wie bisher angenommen 4,4 Prozent. Damit ließ die türkische Wirtschaft - unter Führung des Ministerpräsidenten und ab 2014 Präsidenten Erdogan - sämtliche entwickelten Länder hinter sich und erreichte etwa das Wachstumstempo Chinas.

Dass schnell wachsende Volkswirtschaften die Berechnungsgrundlage für ihr Wirtschaftswachstum überarbeiten, ist nicht ungewöhnlich. Im Fall der Türkei steckt hinter den Änderungen zudem auch eine Angleichung an die Standards der EU-Statistik-Behörde Eurostat, die TÜIK seit vielen Jahren schon berät.

Die nun erfolgte massive Revision in der Türkei ruft bei Experten allerdings Skepsis hervor. "Es ist schwierig, sich einen Reim darauf zu machen", zitiert Bloomberg den Analysten Inan Demir vom Finanzkonzern Nomura. Das größte Problem für die Experten ist, dass bisher nur die BIP-Zahlen auf die neue Berechnungsbasis umgestellt wurden. Die Kalkulationen lassen sich nicht nachvollziehen, da ein Großteil der anderen Wirtschaftsdaten bislang nicht revidiert wurden.

Eindruck von aktueller Krise verstärkt

Als Beispiel nennt Demir die auf 8,5 Prozent nach oben revidierte Wachstumszahl für 2016. Im selben Jahr legte die türkische Industrie gerade einmal um drei Prozent zu. Zudem gab es eine Krise an den Finanzmärkten, die die Türkei besonders traf. "Entweder nehmen sie auch Änderungen bei der Industrieproduktion vor oder es bleibt ein Widerspruch zwischen den Zahlen bestehen", so Demir. Das würde zu Zweifeln an der Zuverlässigkeit der offiziellen Wirtschaftsdaten führen.

Ganz ohne unerwünschte Nebenwirkungen für Erdogan und seine Regierung ist das statistische Wirtschaftswunder allerdings nicht. Denn es lässt die aktuelle Krise besonders heftig wirken. Experten hatten einen Rückgang der Wirtschaftsleistung von etwa einem halben Prozentpunkt für das vergangene Quartal erwartet. Dass die TÜIK-Statistiker stattdessen einen dramatischen Einbruch von 1,8 Prozent verkündeten, lag unter anderem daran, dass sie die Vergleichszahl für den Vorjahreszeitraum kräftig heraufgesetzt hatten.

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