Wie konnte Europas meistgesuchter Terrorist Deutschland verlassen?

  24 Dezember 2016    Gelesen: 425
Wie konnte Europas meistgesuchter Terrorist Deutschland verlassen?
Der Islamist, der den Anschlag in Berlin verübt haben soll, ist tot. Für die Behörden beginnt aber erst die Aufarbeitung der Pannen rund um Anis Amri. Wie er es nach Italien schaffte, ist ein Rätsel.

Es war am frühen Freitagmorgen, als Christian Movio und Luca Scavá in Sesto San Giovanni auf Streife gingen. Auf dem Platz des 1. Mai in der Nähe des Bahnhofs des 80.000-Einwohner-Orts nördlich von Mailand sprachen die beiden Polizisten einen jungen Tunesier an, fragten ihn nach seinen Papieren. Eine Routinekontrolle. Der Mann griff in seinen Rucksack. Statt eines Ausweises zückte er eine Pistole Kaliber .22, rief „Allahu akbar“ und eröffnete das Feuer auf die beiden Polizisten. Movio wurde in die Schulter getroffen, Scavá schoss zurück – und tötete den Tunesier.

So beschrieb Italiens Innenminister Marco Minniti das Geschehen, das sich gegen drei Uhr morgens ereignet hat. Es bestehe „nicht der Schatten eines Zweifels“ an der Identität des Getöteten. Es handele sich um Anis Amri, jenen Mann also, der nach Überzeugung der deutschen Sicherheitsbehörden der Attentäter von Berlin ist. Ihm wird vorgeworfen, am vorigen Montagabend einen Lastwagen auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche gesteuert, zwölf Menschen ermordet und beinahe 50 verletzt zu haben. Der 29 Jahre alte Luca Scavá, ein Polizist in der Probezeit, hat also den meistgesuchten Terroristen Europas ausgeschaltet.

„Ich bin sehr erleichtert, dass von diesem Attentäter keine Gefahr mehr ausgeht“, sagte Innenminister Thomas de Maizière (CDU). Amris Identität sei anhand von Fingerabdrücken festgestellt worden. Er habe seinen Amtskollegen Minniti bereits zum Erfolg der italienischen Polizei beglückwünscht, so de Maizière. Ganz besonders bedankte er sich „bei den beiden Polizisten, die in der Nacht exzellent gearbeitet haben und besonders tapfer waren“. Der angeschossene Christian Movio sei dankenswerterweise nur „sehr leicht“ verletzt.

Der Albtraum eines bewaffneten, frei herumlaufenden Terroristen hat damit ein Ende gefunden. Die Ermittlungen allerdings gehen mit Hochdruck weiter. Noch am Freitag reiste ein Team des Bundeskriminalamts (BKA) nach Mailand. Es gehe nun darum, so der Minister, Tathintergründe zu rekonstruieren, Netzwerke aufzudecken und Abläufe nachzuvollziehen.

Über Amris Fluchtroute ist wenig bekannt

Tatsächlich sind längst nicht alle Fragen beantwortet. Vor allem diese nicht: Wo hat sich Amri seit Montagabend, 20 Uhr, bis Freitagmorgen, drei Uhr, aufgehalten? Wie konnte der zur internationalen Fahndung ausgeschriebene Tatverdächtige sich offenbar ungehindert über mehrere Grenzen hinwegbewegen? Über seine Fluchtroute sind bislang nur Fragmente bekannt.

„Mit Sicherheit wissen wir, dass er nachts um ein Uhr am Mailänder Hauptbahnhof gewesen ist. Wir haben Bildmaterial dazu”, sagte Mailands Polizeipräsident Antonio De Iesu der „Welt“. Die Bilder könnten noch nicht veröffentlicht werden, sie dienten weiteren Fahndungszwecken. Unklar sei noch, wie Amri dann nach Sesto San Giovanni weitergefahren sei.

De Iesu zeigte sich zufrieden mit dem Erfolg der nach dem Berliner Anschlag aufgestockten Sicherheitsmaßnahmen. Unter anderem war die Zahl der Streifenpolizisten erhöht worden, teilweise seien Beamte aus dem Urlaub geholt worden – zu Recht, wie der Polizeichef sagte: Anis Amri sei „eine durchgeknallte Zeitbombe, ein hochgefährlicher Mann auf der Flucht“ gewesen, unterwegs „mit geladener Pistole und jederzeit bereit, sie zu benutzen. Er hätte weitere Attentate begehen können.“

Dem Mailänder Antiterrorchef Alberto Nobili zufolge war Amri mit dem Zug nach Italien gekommen. Er sei aus Frankreich, aus Chambéry im Département Savoyen, nach Turin gereist. Nach drei Stunden Aufenthalt sei er von der italienischen Region Piemont wiederum mit dem Zug weiter nach Mailand gefahren, so Nobili, wo er gegen ein Uhr in der Nacht zum Freitag angekommen sei. Die Bahntickets in seiner Tasche machten es möglich, diesen Reiseweg zu rekonstruieren. Dann muss er weiter nach Sesto San Giovanni im Norden Mailands gefahren sein, wo er von der Polizeistreife gestellt wurde.

Man mag sich fragen, warum Amri nicht den direkten Weg nach Italien wählte – schließlich musste er damit rechnen, dass ihm die Zeit davonlief. Es ist nicht auszuschließen, dass der Tunesier in den vergangenen Monaten schlicht die Nachrichten verfolgt hat. Der Weg über den Brenner wäre nämlich risikoreich gewesen, weil an der Grenze zu Österreich seit der Flüchtlingskrise viele Autos und Züge kontrolliert werden. Ähnliches gilt mittlerweile auch bei der Schweiz. Nachdem immer mehr Migranten aus Italien über die Schweiz nach Deutschland reisten, patrouillieren deutlich mehr Polizisten, gehen durch die Züge und leuchten mit Taschenlampen in Autos hinein.

Über Frankreich dagegen führt offenbar der einfachere Fluchtweg. Schon 2015, im Jahr der Massenzuwanderung, unterschätzten viele diesen Weg durch Europa. Dabei hatte sich die Route längst unter Migranten und Schleppern herumgesprochen. Damals wählten viele sie, um die strengen Kontrollen in der Schweiz oder in Österreich zu umgehen.

Und auch heute heißt es in internen Unterlagen der EU-Grenzschutzagentur Frontex, dass Personen, die über die Balkanroute kommen, immer wieder den Umweg über Norditalien einschlagen. Viele von ihnen wollen nämlich noch weiter, zu Verwandten oder Bekannten in Skandinavien, und wollen nicht vor ihrem Ziel registriert werden.

Die italienischen Ermittler gehen nun vor allem der Frage nach, ob Amri Komplizen oder Unterstützer im Mailänder Sesto-Viertel hatte. Möglicherweise wollte er alte Kontakte aufsuchen. Denn Amri ist in Italien kein Unbekannter, und in Mailand sowie der norditalienischen Provinz gibt es viele Stützpunkte radikaler Islamisten. Auch in Sesto San Giovanni. Das liegt in der Lombardei, einer Region, die von der Tageszeitung „Il Giornale“ zum „Molenbeek Italiens“ erklärt wurde.

Im belgischen Molenbeek hatten sich die Attentäter von Paris versteckt. Dass Amri in Sesto also Unterschlupf finden und sich möglicherweise gefälschte Papiere und Tickets für die Ausreise besorgen wollte, ist die These der Fahnder. „Bisher gibt es aber noch keine Hinweise auf Verbindungen zur Moschee von Sesto“, sagte Polizeipräsident Di Iesu.

BKA konzentriert sich auf „Verlauf der Flucht“

Dem italienischen Justizministerium zufolge war Amri während des sogenannten arabischen Frühlings im Jahr 2011 gemeinsam mit Zehntausenden jungen Tunesiern per Boot nach Italien gekommen. Dort saß er dreieinhalb Jahre in Haft, nachdem er unter anderem ein Feuer in einem Flüchtlingszentrum gelegt und Drohungen ausgesprochen hatte. Wegen schlechten Verhaltens in Haft wurde er mehrmals ermahnt und verlegt.

Auf Sizilien saß er in sechs verschiedenen Gefängnissen. Anzeichen einer extremistischen Radikalisierung wurden in Italien demnach aber nicht bemerkt. Amris Bruder, Abdelkader Amri, vermutete hingegen, dass er sich während seiner Zeit im italienischen Gefängnis radikalisiert haben könnte. 2015 war Amri schließlich über Freiburg nach Deutschland eingereist.

Die Hilfe durch die islamistische Unterstützerszene vor und nach der Tat beschäftigt auch das Bundeskriminalamt, wie dessen Präsident Holger Münch sagte. Der Schwerpunkt der Ermittlungen aber sei der „Verlauf der Flucht“. Wie konnte Amri Deutschland überhaupt verlassen?

Im Falle eines Terrorverdachts wird eigentlich umgehend die Polizeipräsenz an Bahnhöfen, Flughäfen und sonstigen Verkehrsknotenpunkten hochgefahren. Überall wird strenger kontrolliert, auch an den Landgrenzen zu den Nachbarstaaten. Frankreich verstärkte nach dem Anschlag die eigenen Kontrollen an der Grenze zu Deutschland ebenfalls. Allein im Elsass an der Grenze zu Baden-Württemberg wurden 200 zusätzliche Polizisten und Soldaten eingesetzt. Auch im Département Moselle, das an das Saarland und Rheinland-Pfalz grenzt, wurde mehr Personal eingesetzt.

Allerdings hatten die Ermittler in Berlin zunächst einen anderen Tatverdächtigen im Auge, einen unmittelbar nach dem Anschlag festgenommenen Pakistaner. Die Fährte Amris verfolgten sie erst, nachdem die Spurensicherung im Führerhaus des Lkw eine Geldbörse mit seinen Duldungspapieren gefunden hatte. Das geschah aber erst am Dienstag, weil die Fahrerkabine zunächst versiegelt worden war. Erst am Dienstagabend wurde dann die Fahndung eingeleitet. Am Mittwoch setzte die Bundesanwaltschaft eine Belohnung in Höhe von 100.000 Euro auf Hinweise aus, die zur Ergreifung Amris führen.

Etliche Ungereimtheiten im Vorfeld der Bluttat

Warum aber wurde die Geldbörse erst so spät gefunden? Berlins Polizeipräsident Klaus Kandt rechtfertigte die Verzögerung mit einem planmäßigen Vorgehen bei der Spurensicherung. „Es gibt kriminaltechnische Standards, wie lange kriminaltechnische Untersuchungen dauern, die halten wir auch konsequent ein“, sagte Kandt.

Schließlich gehe es nicht nur darum, einen Täter festzunehmen, sondern auch darum, die Taten vor Gericht zu beweisen: „Dazu gehört eben auch, dass man nicht Spuren vernichtet, sondern die Standards einhält.“ Jedenfalls gewann der Flüchtige durch das Prozedere einen gehörigen Vorsprung. Solange nicht nach ihm gefahndet wurde – oder er falsche Papiere vorlegte –, wäre es ein Leichtes gewesen, das Land zu verlassen.

Aufzuklären sind auch etliche Ungereimtheiten im Vorfeld der Tat. So soll der Bundesnachrichtendienst (BND) der marokkanischen Regierung zufolge bereits seit Monaten von der Gefahr gewusst haben, die von Anis Amri ausging. Nach Informationen der „Welt“ soll Marokkos Nachrichtendienst zwei Mal Warnungen an den BND weitergeleitet haben – am 19. September und am 11. Oktober 2016. Konkret ging es um die Gesinnung von Amri und seine Bereitschaft, einen Terroranschlag durchzuführen.

Demnach hatte Amri in Deutschland Kontakt zu zwei Anhängern des Islamischen Staates (IS). Bei einem soll es sich um einen von deutschen Behörden abgewiesenen Russen handeln, bei dem anderen um einen Marokkaner, dessen Reisepass von der Berliner Polizei eingezogen wurde. Zudem wird Amri vorgeworfen, in Tunesien versucht zu haben, Mitglieder für den IS anzuwerben. Innenminister de Maizière wollte dazu keine Stellung beziehen und wies lediglich darauf hin, dass in diesem Fall „sehr viele Gerüchte“ im Umlauf seien.

Weiterhin wird zu klären sein, warum die Ausländerbehörde in Nordrhein-Westfalen, die für den abgelehnten Asylbewerber Amri zuständig war, und die Sicherheitsbehörden, denen Amri als Gefährder mit Kontakt zur Islamistenszene bekannt war, dessen rege Reisetätigkeit innerhalb Deutschlands tolerierten und keinerlei Meldeauflagen anordneten. Die Gesetze dafür sind vorhanden. Abgeschoben werden hingegen konnte er zunächst nicht, weil die Tunesier ihm keine Papiere ausstellten. Der angeforderte Pass kam erst nach dem Anschlag in Deutschland an.

Das BKA werde auch über die Weihnachtsfeiertage weiterhin mit einer „dreistelligen Zahl von Ermittlern am Thema arbeiten“, um all die Fragen lückenlos aufklären zu können, erklärte BKA-Präsident Münch. Innenminister de Maizière warnte die Bürger, dass die terroristische Bedrohungslage trotz des Fahndungserfolgs hoch bleibe. Und er kündigte eine Analyse der bisherigen Ermittlungen an: „Es ist jetzt die Zeit, Konsequenzen zu ziehen.“

Quelle:welt

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