Neues aus den Unterklassen: Bundesregierung setzt auf sozialrechtliche Apartheid

  25 Februar 2017    Gelesen: 294
Neues aus den Unterklassen: Bundesregierung setzt auf sozialrechtliche Apartheid
Die Bundesregierung hat EU-Bürgern die Sozialhilfe gestrichen. Von den Auswirkungen sind viele Familien mit Kindern betroffen, die oft schon jahrelang in Deutschland leben. Immer mehr Betroffene verlieren ihr Obdach.
von Susan Bonath

In Deutschland droht ein weiterer Zuwachs an Verelendeten. Betroffen sind Arbeitssuchende aus anderen EU-Ländern samt Familien. Sozialämter und Jobcenter kappen ihnen derzeit jegliche Unterstützung. Das neue Ausschluss-Gesetz für EU-Bürger macht es möglich. Der Leipziger Sozialrechtsanwalt Dirk Feiertag beklagt dramatische Notfälle.

Etwa 15 Familien betreut Feiertag inzwischen juristisch. „Streetworker gehen aber von etwa fünfzig Fällen alleine in Leipzig aus“, sagte er im Gespräch. Seine Klienten bekamen im Januar per Bescheid mitgeteilt, dass ihre Leistungen ab sofort eingestellt werden.

„Sie können keine Miete mehr zahlen, müssen aus der Wohnung, landen auf der Straße, haben nichts zu essen“, beschreibt der Anwalt die Lage der Betroffenen.

Auch Betreiber von Notunterkünften seien angehalten worden, EU-Bürgern nur noch einen Schlafplatz gegen einen Obolus von fünf Euro zu geben. Aus lauter Verzweiflung habe der Anwalt einigen Betroffenen schon selbst Geld für das Notwendigste gegeben. „Das ist auch mir natürlich nur begrenzt möglich“.

Gut integriert vor dem Nichts

Vor dem absoluten Nichts steht die Familie Spasovic. „Ich bin seit 1995 in Deutschland, habe gearbeitet“, berichtet der Vater in einem Video, das der Rechtsanwalt am 20. Februar auf Facebook veröffentlichte.

Vor einigen Jahren kehrte der Mann vorübergehend nach Polen zurück, um seine Mutter bis zu ihrem Tod zu pflegen. Seit rund vier Jahren ist er mit Frau und Kind wieder in der BRD. Er hielt die Familie mit Gelegenheitsjobs und aufstockender Sozialhilfe über Wasser.

Im vergangenen Jahr konnte Spasovic jedoch nicht arbeiten. Das Sozialamt hatte die Eltern in einen Kurs geschickt, um ihre Deutschkenntnisse zu vertiefen. Seit Dezember sucht der Vater wieder einen Job, bisher vergeblich. Ohne Hilfe droht ihnen der Verlust der Wohnung und der Krankenversicherung. In Polen haben sie weder Besitz noch Rücklagen. Dabei ist die Familie gut integriert. Die kleine Tochter Vanessa spricht deutsch, geht in den Kindergarten. „Das wird sie nun nicht mehr können“, meint Feiertag. Für die Familie zieht er nun vor Gericht. Damit sie bis dahin überleben kann, sammelt seine Kanzlei Spenden. „Hier geht es um einen akuten Notfall“, unterstreicht der Anwalt.

Kinderheim oder Hungern

Ein anderes Problem hat eine junge Südeuropäerin. Als ihre Tochter in Deutschland zur Welt kam, gab sie die Kleine wegen persönlicher Probleme in die Obhut des Jugendamtes. Seit einem Jahr sind diese gelöst. Sie besucht ihr Kleinkind täglich. Es sollte demnächst zu ihr zurückkehren. Daraus wird jedoch nichts.

Grund sind „ungeklärte wirtschaftliche Verhältnisse“. Der Clou: Sobald das kleine Mädchen bei der Mutter wohnen würde, bekämen beide keinen Cent mehr. Bleibt das Kind aber in der Pflegestelle, erhält die Mutter weiter Sozialhilfe. Denn nach einem anderen Gesetz hat das Kind Anspruch auf Umgang mit ihr. Dafür muss sie der Staat versorgen. „Das ist völlig schizophren“, resümierte Dirk Feiertag. „Da wird viel mehr Geld in eine staatliche Betreuung gesteckt, als man der Mutter zahlen müsste.“

Wachsende Arbeitslosigkeit, kaum Hilfe

Laut Feiertag sind EU-Ausländer, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, eine kleine Randgruppe. In den letzten Jahren ist diese trotzdem gewachsen. Seit der Wirtschaftskrise 2008 hat sich die soziale Lage in vielen europäischen Ländern verschärft.

Unter anderem durch einen Unterbietungswettbewerb bei Löhnen und Preisen ist Deutschland daran nicht unschuldig. Die offizielle Arbeitslosenquote betrug im Dezember in Griechenland 25 Prozent, in Spanien 18 Prozent. In Osteuropa liegt sie im Schnitt bei knapp zehn Prozent. Hilfe für Betroffene gibt es dort kaum. Zum Vergleich: Deutschland gab vor zwei Monaten offiziell unter vier Prozent Erwerbslose an. Vielen macht das Hoffnung auf Arbeit. Sie nutzen die Arbeitnehmerfreizügigkeit, scheitern jedoch nicht selten. Wenn überhaupt, landen sie in extrem prekären Jobs.

Moderne Sklaven

Schon vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes verweigerten viele Sozialämter EU-Ausländern die Hilfe. Im Dezember 2015 gebot das Bundessozialgericht dem Einhalt. Nach sechs Monaten Aufenthalt müssten sie ihnen eine Mindestsicherung gewähren, urteilte es. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) beauftragte daraufhin das neue Gesetz. Noch im Dezember trat es in Kraft. Unterstützung erhalten Betroffene danach erst nach fünfjährigem Daueraufenthalt in Deutschland. Die Neue Richtervereinigung hatte das Konstrukt im Dezember als verfassungs- und menschenrechtswidrig eingestuft. Schwerer Schaden drohe auch dem Arbeits- und Sozialrecht.

„Die Regelung schafft eine Gruppe moderner Sklaven, die alle Arbeitsbedingungen und jedes Lohnniveau akzeptieren müssen, um hier zu überleben“, warnten die Richter.

Dies erhöhe den Druck auf alle Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Die Bundesregierung ersetze Menschenwürde für alle durch „sozialrechtliche Apartheid“, beklagten die Juristen. Anwalt Feiertag ist sicher: „Das Gesetz wird irgendwann in Karlsruhe gekippt werden.“ Das kann allerdings viele Jahre dauern.


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