"Brexit heißt Brexit"

  22 April 2017    Gelesen: 535
"Brexit heißt Brexit"
Führende Volkswirte glauben weiter an den Aufschwung. Für Gesprächsstoff sorgt jedoch vor allem der Brexit - der EU-Austritt der Briten wird kontrovers diskutiert.
Führende Ökonomen beurteilen die Lage in Deutschland so gut wie zuletzt vor sechs Jahren. Das Ökonomen-Barometer von "Euro am Sonntag" und dem Nachrichtensender n-tv hat vom bereits hohen Niveau im April noch einmal zugelegt und steigt gegenüber dem Vormonat um drei Prozent auf 68,1 Punkte. Die Prognose für die wirtschaftliche Entwicklung in den kommenden zwölf Monaten schnellte sogar um neun Prozent nach oben und ist mit 74,9 Punkten nun auf einem Niveau, das zuletzt im Juli 2011 (mit 75 Punkten) erreicht worden war.

Die führenden Volkswirte beschäftigten sich in der April-Umfrage im Vorfeld des EU-Sondergipfels am kommenden Wochenende in Brüssel mit dem geplanten Austritt der Briten aus der EU. Die Staatschefs verhandeln dort über das Prozedere des Austritts. Nach EU-Recht müssen die verbleibenden 27 Länder politische Leitlinien festlegen, nach denen sich EU-Chefunterhändler Michel Barnier richten soll.

Die britische Premierministerin Theresa May hatte am Dienstag für einen Paukenschlag gesorgt, als sie für den 8. Juni Neuwahlen fürs britische Unterhaus ankündigte. Das Parlament stimmte am Mittwoch zu. Ein Jahr nach dem Brexit-Votum werden die Briten damit erneut an die Urnen gerufen.

May verspricht sich dadurch mehr Rückhalt bei den Brexit--Verhandlungen. Den Austrittsantrag hatte sie bereits Ende März in Brüssel eingereicht. Nun wolle sie einen guten Brexit-Deal herausholen, sagte sie, ohne Details zu nennen. Unklar bleibt damit, wie hart der Kurs sein wird, den May bei den Verhandlungen einschlagen wird. Nach der Neuwahl-Entscheidung waren zwischenzeitlich Hoffnungen auf einen versöhnlicheren Kurs aufgekeimt, die auch dem Pfund Auftrieb gaben. "Die EU ist gut beraten, der irrationalen Entscheidung der Briten nicht im Nachgang den Schrecken nehmen zu wollen", warnt dagegen Volker Nitsch von der TU Darmstadt. Sein Credo: "Brexit heißt Brexit."

Schwieriger Zeitplan

Ursprünglich waren die Parlamentswahlen für 2020 angesetzt. Nach dem Vorziehen des Urnengangs wird danach regulär erst 2022 wieder ein neues Unterhaus gewählt. "Der Wahlkampf für eine Abstimmung 2020 hätte genau zum kritischsten Zeitpunkt der Verhandlungen begonnen, nämlich zum Abschluss", erläuterte May. Nach dem Brexit-Zeitplan müssen die Austrittsverhandlungen mit der EU bis März 2019 abgeschlossen sein. Eine Verlängerung ist nur mit einem einstimmigen Beschluss der 27 verbleibenden EU-Staaten möglich.

Die im Ökonomen-Barometer April befragten Experten rechnen mehrheitlich damit, dass dieser Zeitplan auch eingehalten wird. Nur 17 Prozent erwarten eine Verschiebung. Zu den Zweiflern zählt Ulrich Blum von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. "Die Regierung hat mehr Baustellen als sie bewältigen kann. Vor allem dürfte ihr das Personal fehlen, den Brexit rechtzeitig durchzuverhandeln."

Der Brexit und insbesondere das Prozedere des Austritts sind nach Ansicht der führenden Volkswirte ein komplexes Unterfangen. Mehr als 54 Prozent der Befragten sind der Ansicht, dass zunächst separate Verhandlungen über den Austritt an sich geführt werden sollten. Erst nach einer Übergangsphase sollten dann Gespräche über die Beziehung zwischen der EU und Großbritannien beginnen.

Für das von der britischen Regierung präferierte Vorgehen mit parallelen Verhandlungen zu Austritt und Ausgestaltung der künftigen Beziehungen spricht sich dagegen mit 43 Prozent ein deutlich kleinerer Anteil der Befragten aus. "Vorgezogene Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU senken die Anreize für zügige und effiziente Austrittsverhandlungen innerhalb von zwei Jahren", erläutert Frank Bulthaupt von der Hochschule der Finanzgruppe der Sparkassen. "Lange andauernde Verhandlungen gehen auch zulasten der britischen Wirtschaft."

Verhaltensökonom neugierig

Die Folgen des Brexit selbst werden von den Ökonomen kontrovers diskutiert. "Der Brexit ist für Deutschland eine Katastrophe", glaubt Bruno Schönfelder von der Bergakademie Freiberg. "Das Vereinigte Königreich kann aber damit leben." Ähnlich sehen das Thomas Huth von der Uni Lüneburg und Mathias Erlei von der TU Clausthal.

"Eine mutige und für England lohnende Entscheidung", glaubt auch Walter Krämer von der Uni Dortmund, ein bekennender Eurokritiker. "Die Briten werden demnächst genauso verarmen wie die Schweiz", ergänzt der Ökonom, der 2012 einen Aufruf zur Eurokrise initiiert hat, der von mehreren Hundert Professoren unterzeichnet wurde, darunter auch der frühere Ifo-Chef Hans Werner Sinn. "Es gibt für das Vereinigte Königreich nur schlechte Optionen", warnt dagegen Gerhard Wegner von der Uni Erfurt.

ZEW-Experte Friedrich Heinemann sieht mit dem Brexit Deutschlands Durchsetzungsfähigkeit in der EU stark beschnitten: "Vorstellungen zum Ausbau von europäischen Transfersystemen, einer zentralen Steuerpolitik und zur Angleichung von Sozialstandards könnten nun eher realisiert werden."

Ein Teilnehmer der April-Umfrage kann den Beginn der Brexit-Verhandlungen kaum noch erwarten: Martin Kocher, Lehrstuhlinhaber für Verhaltensökonomik und experimentelle Wirtschaftsforschung an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. "Für den Verhandlungstheoretiker werden das extrem spannende Verhandlungen", freut sich Kocher.

Quelle: n-tv.de

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