Amsterdams Szeneviertel Noord

  27 April 2017    Gelesen: 573
Amsterdams Szeneviertel Noord
Hausboot-Galerien und Hafenflair statt Coffeeshops und Grachtenromantik: Noord ist der spannendste Kiez von Amsterdam. Doch die kreative Avantgarde sieht das Szeneviertel schon in Gefahr.
Ein Holzboot, der Länge nach entzwei gesägt, dient als Sitzbank vor dem Café. Komposttoiletten und Solarpanele auf dem Dach zeugen davon, dass man in Amsterdam-Noord nach vorne schaut - und nicht zurück. Recycling und Öko-Gedanke statt Rembrandt und Grachtenromantik.

Noord war lange Zeit Amsterdams Schmuddelkind: ein von Industrie geprägtes Arbeiterviertel, in dem Schiffe gebaut wurden. Heute dient diese Tradition als Gegenentwurf zum Vergnügungspark der Innenstadt mit Coffeeshops und Tulpenverkäufern. Noord hat sich zum Szeneviertel von Amsterdam entwickelt - mit einer Kulisse aus Kränen, die auf stillgelegten Arealen in die Höhe ragen.

"Ein inspirierendes Ambiente und eine Welt der Kontraste", liest eine Touristin auf der Fähre ihrem Freund aus dem Smartphone vor. Das ist es, was vor allem junge Leute erwarten, wenn sie von den Pontons am Amsterdamer Bahnhof Centraal in den Norden der Stadt übersetzen, um hier tagsüber Kaffee zu trinken, über Flohmärkte zu schlendern oder Kunstausstellungen zu besuchen - und nachts tanzen zu gehen.

Der Fluss IJ, früher ein Meeresarm der Zuiderzee, trennt das Viertel vom Rest der Stadt. Erst vor rund zehn Jahren begann der langsame Aufstieg, auch von der Stadt gefördert, um die Ballung im Zentrum zu entzerren.

2012 zog das nationale Filmmuseum EYE aus einem herrschaftlichen Altbau am Vondelpark in einen architektonisch spannenden Neubau am nördlichen IJ-Ufer. Seitdem eröffnen in der Umgebung schicke Restaurants, Galerien und Cafés - wie auch das Kreativprojekt De Ceuvel mit seinen Möbeln aus recycelten Holzbooten.

Es hat sich, auf dem Gelände der früheren Schiffswerft Ceuvel-Volharding liegend, inzwischen zu einem öffentlichen Raum für Kultur, Konzerte und Lesungen gemausert. Vor dem Café sitzen Gäste am Wasser in der Sonne, es gibt vegetarische Speisen mit Zutaten aus der Region. Im Hintergrund kreischt eine Kreissäge.

Seit der Insolvenz der Werft im Jahr 2000 lag das Areal ein Jahrzehnt brach, ehe die Gemeinde für die Nachnutzung einen Ideenwettbewerb ausschrieb. Heute arbeiten hier Fotografen, Künstler und Architekten in alten Hausbooten, die an Land stehen. Drumherum wachsen Pflanzen, die den Boden von den Schadstoffen der Industrie reinigen, in einem knappen Meter Höhe führt ein Steg durch den Trockenhafen.

"De Ceuvel ist ein Brutplatz", sagt Tycho Hellinga, Programmdirektor des Projekts. Doch wie lange hier noch Platz für Kreative sein wird, ist unklar. Das Gelände gehört der Gemeinde, die es für zehn Jahre kostenlos zur Verfügung stellt. Doch nah am Wasser stehen schon Neubauten mit teuren Wohnungen, auch auf der anderen Uferseite rollen die Bagger. Makler bewerben Apartments mit der Nähe zu angesagten Plätzen wie einer Mikrobrauerei im Osten des Stadtteils.

"Das alte Amsterdam stirbt"

Hellinga sieht die Entwicklung zwiegespalten. "Aufwertung ist an sich nichts Schlechtes", sagt er und blinzelt unter seiner Schiebermütze in die Sonne. "Hier lag alles still, nach den Pleiten der Werften stiegen Arbeitslosigkeit und Kriminalität." Nun bewege sich etwas, es kämen Geld und Jobs nach Noord. "Aber das alte Amsterdam stirbt immer weiter aus, reiche Leute kaufen die Stadt auf." Die Gemeinde müsse aufpassen, damit der Norden nicht das gleiche Schicksal erleide.

Um in Noord von einer Location zur nächsten zu kommen, muss man mit dem Fahrrad schon mal eine Viertelstunde zurücklegen - untypisch für Amsterdamer Verhältnisse, wo angesagte Treffpunkte häufig in unmittelbarer Nachbarschaft liegen. Ein Charme, der Noord vielleicht vor einer allzu schnellen Transformation schützt. Die Wege ziehen sich oft an eintönigen Brachflächen entlang und an Autowerkstätten, vor denen ölverschmierte Mechaniker fachsimpeln.

Auch der Weg zum Pllek, einem Lokal im Westen des Viertels, wirkt trostlos. Doch das Restaurant in alten Überseecontainern steht exemplarisch für den Boom: Wer hier nicht reserviert, muss abends mit Wartezeiten von zwei Stunden rechnen. Und die Leute warten bereitwillig auf Schellfisch, Couscous und Hipster-Lifestyle, weshalb in dem Metallkasten eine Akustik wie in der Uni-Mensa herrscht.

Günstige Preise sucht man auf der Karte allerdings vergebens. Hauptgerichte kosten um die 20 Euro - die alteingesessenen Bewohner von Noord können sich das nicht leisten. Wie lange wird es dauern, bis das postindustrielle Flair zur Kulisse verkommt?

Start-ups und Streetart

Natürlich bestehe die Gefahr, einen spannenden Stadtteil steril werden zu lassen, sagt Peter Ernst Coolens. Der 44-Jährige läuft nahe des Pllek durch eine riesige Halle, in der die NDSM-Werft bis in die Mitte der Achtzigerjahre Schiffsrümpfe geschweißt hat. An den Stahlträgern lehnen heute zimmergroße Bilder. Nächstes Jahr soll hier das größte Streetart-Museum der Welt eröffnen.

Coolens, früher selbst Graffitikünstler, ist Kurator von Street Art Today. Vor zwei Jahren erhielt er den Auftrag, die IJ-Hallen mit Graffiti zu dekorieren. Dort öffnet an den Wochenenden der größte Flohmarkt der Welt seine Tore, manchmal kommen zehntausend Besucher am Tag.

Für viele ist der Markt der Ausgangspunkt der neuen Blütezeit des Viertels. "Als wir immer mehr Werke von Künstlern beisammen hatten, war die Idee für das Museum naheliegend", sagt er. Seitdem sprayen Leute aus aller Welt in der Halle.

Auf dem zehn Fußballfelder großen NDSM-Gelände haben sich Start-ups angesiedelt, fast wöchentlich gibt es Kulturevents - am heutigen Königstag etwa steigt das Kingspray-Festival für Streetart. "Der kulturelle Output ist beeindruckend", sagt Coolens, der die depressive Zeit des Nordens kennt, seit er vor 15 Jahren hierher zog. "Damals haben mich Freunde so schräg angeguckt, als sei ich nach Sibirien gezogen."

Wer Noord besuche, müsse sich gezielter bewegen als in der Innenstadt. "Also kommen die Besucher auch bewusster", sagt Coolens. Er spricht von einem schmalen Grat. "Noord soll nicht nur eine neue Attraktion sein, sondern eine andere Seite von Amsterdam vermitteln, eine Tradition, die nicht in Vergessenheit geraten darf."

Quelle : spiegel.de

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