Auf spanischer Seite gibt es wohl kaum einen zweiten Autor, der wie Juan Goytisolo zum Inbild solcher Aufräumarbeit geworden ist. 1931 als Spross einer bürgerlichen Familie in Barcelona geboren, verfasste er in den fünfziger Jahren zunächst einmal Romane, die den Prinzipien des sozialen Realismus folgten und dabei, wie in "Trauer im Paradies", den Bürgerkrieg thematisierten oder, wie in "Das Fest der anderen", eine katholische Kirche befragten, die dem politischen Status quo verpflichtet und für das soziale Elend großer Teile der Bevölkerung blind war.
Collage von Textsorten
Dass er neben dem literarischen Werk immer auch journalistisch tätig war, zeigte sich zuerst in der 1959 erschienenen Reportage "Campos de Níjar", in der er das Hinterland von Almería, eine der ärmsten Gegenden Spaniens, bereist und die Lebenssituation der Menschen beschreibt. Schon zwei Jahre zuvor war er nach Paris übersiedelt, wo er als Lektor für Gallimard arbeitete und von wo aus er Kuba und Algerien besuchte.
Goytisolo war rasch klar, dass der soziale Realismus ohne Zukunft war und die Notwendigkeit einer Erneuerung des Romans bestand. 1966 ließ er in Mexiko "Identitätszeichen" erscheinen – in Spanien konnte das Buch erst nach Francos Tod verlegt werden -, ein Werk, das heute zu den unbestrittenen Höhepunkten der spanischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerechnet wird. Der Autor erzählt hier die Geschichte seiner eigenen Familie und von seinem schwierigen Verhältnis zur Heimat, das ihn ins Exil geführt hat. Im selben Moment, in dem er feststellt, dass er weder bei seinen reaktionären Vorfahren noch in der Gegenwart seines Landes Identität findet, erkennt er, dass die Vorstellung von Identität selbst falsch und aufzugeben ist und macht seinen Roman darum zu einer Collage verschiedener Textsorten: Erinnerungen, Selbstgespräche, Zitate aus der franquistischen Presse, Polizeiprotokolle und rhythmisierte Passagen.
Reisen in arabische Länder
Von nun an sollten seine Romane nicht nur vielstimmig sein, sondern mehr und mehr das Ausgegrenzte, das Andere im Kern der eigenen Kultur ins Auge fassen. In "Rückforderung des Conde don Julián" von 1970 rechnet er ab mit der Phobie seiner Landsleute gegenüber den arabischen Völkern, ersinnt sehnsüchtig eine erneute maurische Invasion, unterzieht die spanische Literatur, soweit sie von politischem Quietismus und blanker Affirmativität bestimmt ist, beißender Kritik, um dagegen Luis de Góngora zu verherrlichen, der bekanntlich der Überzeugung, dass die Dominanz des abendländischen Identitätsdenkens aufzugeben ist, vollendete dichterische Form verliehen hat. Goytisolo, durch sein Gesamtwerk, hat dieses Erbe aufgegriffen und seinen Zeitgenossen neu lesbar gemacht.
Goytisolo bereiste im Folgenden nicht nur immer wieder arabische Länder, sondern schrieb auch in Essays über sie oder arbeitete seine Erfahrungen und Lektüren in mehrere Romane ein. In "Reise zum Vogel Simurgh" (1988) etwa erinnert er an eine Figur wie San Juan de la Cruz, dessen Lyrik sich trotz aller späteren Verehrung durch die christliche Orthodoxie nach Ergebnissen der Forschung aus islamischen Quellen speist, und evoziert eine Tradition sinnverwirrender Verschmelzung von Mystik, Erotik und Geschlechtlichkeit.
Von Grass lernte er das Wort "Nestbeschmutzer"
Auch "Quarantäne" (1991) befasst sich mit islamischen Vorstellungen, insbesondere vom Leben nach dem Tod, zitiert Beschreibungen von Himmel und Hölle aus dem Sufismus, die auch Dante bereits gekannt haben soll, und setzt sie in Beziehung zu Miguel de Molinos, einem von der Inquisition verbotenen spanischen Mystiker. Gleichzeitig hatte der Autor den Horizont seiner Kritik erweitert und auf die europäische Konsumgesellschaft mit ihrer Ächtung der Homosexuellen, Aidsinfizierten und Unangepassten sowie auf die totalitäre sowjetische Kulturpolitik ausgedehnt.
Im Kontakt mit Günter Grass hat Goytisolo einmal das deutsche Wort „Nestbeschmutzer“ gelernt und kurz darauf im Versuch einer spanischsprachigen Umschreibung zum Titel einer seiner Essaysammlungen gemacht. Zu diesem Zeitpunkt wollte ihn freilich kaum einer noch mit einem ähnlichen Schimpfwort belegen.
Längst war klar, dass Goytisolo, der 2014 sogar mit dem Cervantespreis, der höchsten literarischen Auszeichnung des Landes, geehrt wurde, der Kultur seines Landes größte Dienste erwiesen hat, indem er sie in die Universalität zurückholte. Vor ein paar Jahren bereits hatte das Kultusministerium in Madrid seinen Nachlass erworben – endlich begann der Prophet auch im eigenen Land etwas zu gelten. Jetzt ist Goytisolo am 4. Juni in seinem nahe des Marktplatzes Djemaa el Fna gelegenen Haus in Marrakesch gestorben./tagesspiegel
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