Es ist ein Makel in seiner glänzenden Bilanz: Nicht die Mehrheit der Franzosen hat La République en Marche zur stärksten Kraft in der Nationalversammlung gewählt, sondern die Minderheit. Mehr als die Hälfte der Wähler (57 Prozent) blieb zuhause. Der Präsident wird sich kaum mit der Annahme trösten können, dass womöglich viele Wähler zwar mit seinen Ideen sympathisieren - aber glaubten, der Sieg der Macron-Partei sei auch ohne ihre Stimme sicher. Auch die Erklärung, die Franzosen seien nach monatelangem Wahlkampf schlicht wahlmüde, darf im Élysée-Palast niemanden beruhigen. Denn so einfach ist es nicht.
Macron zielte mit seiner Kampagne - nicht nur dem Namen nach - auf die Mobilisierung der breiten Mitte. Er wollte mitreißen, antreiben, inspirieren. Was er sicher nicht gewollt hat, ist Resignation. Doch genau die schlägt nun auch ihm entgegen. Sie ist in Frankreich über Jahrzehnte gewachsen - und das liegt nicht nur an der beachtlichen Anzahl an politischen Affären, die das Vertrauen der Bürger in die Politik immer wieder erschüttert haben, sondern auch am Mehrheitswahlrecht in zwei Runden. Macron hat davon massiv profitiert. Nicht nur bei der Parlamentswahl, sondern auch bei der Wahl zum Präsidenten Anfang Mai.
"En Marche!" profitierte vom Wahlrecht
Die Franzosen, heißt es, wählen in der ersten Runde mit dem Herzen und in der zweiten mit dem Kopf: Während sich Macron von seinen Anhängern im Wahlkampf als Hoffnungsträger feiern ließ, galt er für viele Franzosen schlicht als das geringere Übel - genauso wie seine Partei. In 155 Wahlkreisen blieb den Wählern am Sonntag gar nichts anderes übrig, als "En Marche!" ihre Stimme zu geben - zumindest dann nicht, wenn sie weder die extreme Linke noch die radikale Rechte unterstützen wollten. Dass Le Pens Front National (FN) und Jean-Luc Mélenchons La France insoumise im ersten Wahlgang vielerorts so erfolgreich waren, ebnete in der entscheidenden Stichwahl letztlich den Weg für Macrons gemäßigte Kandidaten.
Da half es auch nichts, dass Mélenchon vorm entscheidenden Urnengang noch einmal das Gespenst der "Einheitspartei" heraufbeschwor und vor der Allmacht des Präsidenten warnte. Im Parlament, orakelte der Linke, könne es bald "weniger Oppositionsabgeordnete geben als im Russland von Herrn Putin". Tatsächlich fielen die Wahlergebnisse aber weniger eindeutig aus, als in den Umfragen vorgesagt wurde. Statt der erwarteten 425 bis 470 Sitze erreichte La République en Marche "nur" 331 Sitze. Auch das nimmt dem Sieg des Macron-Lagers ein wenig von seinem Glanz. Aber es reicht, um unbequeme Politik zu machen.
Die Versuchung für den Präsidenten, seine teils umstrittene Agenda angesichts dieser Mehrheit gegen jeden Widerstand durchs Parlament zu peitschen, ist sicher groß. Doch sein Anspruch sollte ein anderer sein - gerade weil Macron im Wahlkampf nicht nur unermüdlich die Erneuerung, sondern auch die Einheit Frankreichs beschwor. Letztere wieder herzustellen, wird der eigentliche Kraftakt seiner Präsidentschaft sein. Sein Versprechen einzulösen und Frankreich eine "Dosis" Verhältniswahlrecht zu verordnen, wäre womöglich ein erster Schritt zum Erfolg.
Quelle: n-tv.de
Tags: