Russland war jedoch bis kurz vor dem Arabischen Frühling bestrebt, den militärischen Status Quo in der Region nicht durch die Lieferung moderneren Gerätes zu gefährden. So verzichtete Russland bisher auf die Lieferung hochentwickelter, ballistischer Raketen ebenso wie auf die Lieferung moderner Luftabwehrsysteme. Die jüngsten Waffenlieferungen und der stetig voranschreitende militärische Aufmarsch lassen insbesondere die USA befürchten, dass Russland die bisherige Zurückhaltung aufgegeben hat. Auch in Israel bestand diese Befürchtung, die Regierung hat sich jedoch entschlossen, den Stier bei den Hörnern zu packen: So kam es am 21.09.2015 zu einem Treffen zwischen dem russischen Staatschef und dem israelischen Premierminister. Es wurden Vereinbarungen getroffen, um eine Konfrontation beider Staaten bei ihrem Engagement in Syrien zu verhindern. Dieser Ansatz zeigt am deutlichsten das neue Selbstverständnis Russlands als politischer, aber auch militärischer Akteur in der Region. Das erste Ergebnis dieser neuen Konstellation: Israel bestätigte, vor den ersten russischen Luftschlägen vereinbarungsgemäß informiert worden zu sein.
Geopolitisch hat Syrien für Russland eine zentrale Bedeutung, weit über die Region Nah-/ Mittelost hinaus. Es stellt die Brücke zwischen dem östlichen Mittelmeer und dem Persischen Golf dar. Nicht umsonst verfügt Russland mit der Marine-Versorgungsbasis Tartus über eine gut ausgebaute Infrastruktur, die für die laufende militärische Aufrüstung genützt wird. Das derzeitige Zentrum für den Aufbau der Rüstung und der militärischen Infrastruktur erfolgt jedoch in Latakia, der einzigen großen syrischen Hafenstadt am Mittelmeer und langjährigen Basis für die russische Fernmeldeaufklärung.
Trotz langfristiger geopolitischer Interessensbelange ist es aber die Gunst der Stunde, die Russland nutzt, sich im Nahen Osten als politische Ordnungsmacht wieder zu etablieren. Die Einbeziehung des Irans – nicht nur in Syrien, sondern auch bei der Neuordnung des Iraks – spielt in der neuen russischen Nah-/ Mittelostpolitik eine wesentliche Rolle. Erst Ende September 2015 wurde die Einrichtung eines russisch-irakisch-iranischen Joint Intelligence Coordination Centre in Bagdad bekanntgegeben – ein Schritt, der gut in das Gesamtbild der neuen russischen Nah-/ Mittelostpolitik passt. Einmal mehr wurden die USA davon überrascht. Russland spricht von mehr als tausend russischen Staatsbürgern, die in den Reihen des ISIS kämpfen, und unterlegt so das russische Engagement im Irak als Teil einer gesamtheitlichen Strategie gegen den Terror. Die USA scheinen besorgt, dass dem Iran nicht nur beim Zustandekommen eines Lösungsansatzes in Syrien, sondern auch im Irak eine wesentliche Rolle zuerkannt wird, die längerfristig weder im amerikanischen noch im israelischen Interesse liegt. In den letzten Jahren haben sich die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Syrien und dem Iran stark entwickelt.
Was die USA und ihre Verbündeten bisher vermieden haben, nämlich die Entsendung von Bodentruppen im Syrienkonflikt, wird nach Meinung von Beobachtern ein zunehmend realistischeres Szenario. Für dieses Szenario sprechen die Stationierung von Flugzeugtypen und Kampfhubschraubern vom Typ Mi-24 und SU-24 und -25, die eher zu Unterstützung von Bodentruppen geeignet sind. Trotz erheblich baulicher Aktivitäten in und um Latakia lässt sich daraus derzeit kein Aufmarsch russischer Bodentruppen ableiten. Der russische Generalstab arbeitet aber an einem solchen Szenario mit der Zielsetzung, dem IS militärisch wirksam zu begegnen. Dies erfordert zwingend den Einsatz von Bodentruppen und unterlegt eine längere, strategische Zielsetzung russischer Präsenz im Raum.
Das mit Spannung erwartete Zusammentreffen des amerikanischen Präsidenten mit seinem russischen Amtskollegen hat zu keiner grundlegenden Annäherung der Standpunkte im Syrienkonflikt geführt. Die USA sehen nach wie vor den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung des Konfliktes. Russland hingegen nimmt das fundamental anders wahr und sieht eine Beruhigung des Konfliktes nur dann als realistisch an, wenn die derzeitige syrische Regierung sich an der Lösung des Konfliktes beteiligt. Diesen Ansatz verfolgt Moskau nicht erst seit der laufenden UN-Generalversammlung (Herbst 2015), sondern bereits seit einigen Jahren. Neben geopolitischen Interessen geht es Moskau um die Etablierung eines tragfähigen Kompromisses mit der sogenannten syrischen Opposition, um diese angemessen an der Macht im Land teilhaben zu lassen. Tatsächlich wurde eine Vielzahl solcher Gesprächsrunden im Land selbst, aber auch bei den bisher zwei Verhandlungsrunden in Genf und in Moskau absolviert. An die derzeit laufenden Vorbereitungen der dritten Gesprächsrunde in Moskau wird seitens der syrischen Regierung eine hohe Erwartungshaltung geknüpft, gelten sie doch als Vorgespräche für die anschließende, internationale Zweite Verhandlungsrunde in Genf.
Einen Durchbruch in der Frage der Zukunft Syriens hat es bisher weder in Genf noch in Moskau gegeben. Trotzdem hat die Vermittlung Russlands aus der Sicht Syriens einen hohen Stellenwert. Syrien kritisiert die Zusammensetzung der internationalen Schirmherrschaft bei den Verhandlungen in Genf, im Gegensatz zu den Gesprächen in Moskau, als nicht neutral. Scheitern die Gespräche in Moskau, so werden die Erfolgsaussichten in Genf ebenfalls als gering eingeschätzt. Trotzdem, die bisherigen Ergebnisse sind hinter den Erwartungen aller Beteiligter zurückgeblieben. Die syrische Regierung knüpft die Beteiligung der Opposition an der Macht in Syrien an deren Bereitschaft, den Terror im Lande zu beenden. Realpolitisch ist man davon jedoch noch weit entfernt.
Was die internationale Koalition bisher politisch wie militärisch gegen den IS geschafft hat, ist bescheiden. Den Kampf gegen den IS hat sich nunmehr der russische Präsident auf seine Fahne geschrieben. Allerdings wird auch er zur Kenntnis nehmen müssen, dass mit ausschließlicher Luftunterstützung einem Szenario wie in Syrien nicht beizukommen sein wird. Der laufende Vormarsch des IS auf die Gas- und Ölfelder im Osten von Homs sind Nachrichten, die Syrien an einer empfindlichen Stelle treffen. Das Land ist versorgungstechnisch auf diese Ressourcen angewiesen. Sollte es dem IS gelingen, sich in dieser für die Wirtschaft so kritischen Zone festzusetzten, würde sich die Versorgungslage der verbliebenen Bevölkerung dramatisch verschlechtern und zu einem weitern Exodus Richtung Europa führen. Diese und ähnliche Szenarien werden derzeit im russischen Generalstab abgearbeitet. Sollte es mit russischer Unterstützung gelingen, diese neuralgischen Abschnitte zu sichern, wäre das durchaus im Interesse des Westens. Auch dieses Szenario spricht für die Entsendung von Bodentruppen.
Die Verlegung russischer Kampflugzeuge und der Aufbau der dafür notwendigen Infrastruktur ist aber auch ein Warnsignal an den Westen, allen voran an die USA und die Türkei. Die Einrichtung einer „no-fly-zone“ über Schutzzonen, wie von der Türkei gefordert, wird mit der Präsenz russischer Kampfflugzeuge in Syrien ohne Zustimmung Russlands nicht durchzusetzen sein. Die Vorstellung der türkischen Regierung, gleich zwei Vorteile zu erlangen, wird sich mit einer russischen Präsenz in Syrien nicht so leicht bewerkstelligen lassen. Nach türkischen Vorstellungen sollen die syrischen Flüchtlinge im türkisch-syrischen Grenzgebiet in jenem syrischen Grenzsteifen zur Türkei ausgelagert werden, den die Kurden für sich beanspruchen. Faktum ist, die militärische Präsenz Russlands in der Region und die geschickte Diplomatie haben das politische Kräfteverhältnis in der Region bereits jetzt nachhaltig verändert. An ein russisches Ausstiegsszenario mag derzeit niemand glauben, handelt es sich doch um eine langfristig geopolitische Neuordnung des Raumes.
Dass die Frage der Ablösung Assads zur wichtigsten Frage für eine künftig gemeinsame russisch-amerikanische Politik in Syrien aufkommt, ist nicht überraschend: Die Ablösung Assads war ein Ansatz, den die USA und der Westen von Anfang an verfolgten. Assad wurde vom Beginn an für den Bürgerkrieg verantwortlich gemacht und hat wohl auch durch sein brutales Eingreifen seine internationale Reputation verloren. Es wäre aber zu einfach an eine Ablöse des syrischen Präsidenten die Schussfolgerung zu knüpfen, dass damit der Bürgerkrieg in Syrien einer Lösung näher wäre – im Gegenteil. Wie die Beispiele Libyen und Irak deutlich zeigen, geht ein solcher Machtwechsel auch mit der Erodierung staatlicher Strukturen einher. Einer „besseren“ Alternative zu Assad wurde in der bisherigen Diskussion schuldig geblieben. Insbesondere im Hinblick auf den nicht abreißenden Strom von Flüchtlingen nach Europa aus den Bürgerkriegsregionen Syrien und Irak bröckelt die bisherige gemeinsame Ansicht der EU, den syrischen Präsidenten weiter zu isolieren. Österreich und Deutschland, die von der Flüchtlingswelle am stärksten betroffenen Länder der EU, waren die ersten, die den syrischen Präsidenten eine Rolle bei der Lösung des Bürgerkrieges einräumten.
Grundsätzlich wird ein Rücktritt des syrischen Präsidenten nicht einmal von ihm selbst ausgeschlossen. Wogegen sich Russland und auch der syrische Präsident jedoch verwahren, ist das Betreiben seines Rücktritts durch politische und militärische Intervention von außen. Damit öffnet sich ein möglicher Kompromiss, der längerfristig die verhärteten Standpunkte aufzuweichen vermag. Eine geordnete Übergabe setzt jedoch das Ende des Terrorismus vor Ort voraus, wovon wir heute meilenweit entfernt sind.
Wer in Syrien gegen wen kämpft, ist nicht leicht zu beantworten, da Koalitionen häufig wechseln. Die einzige Konstante sind die syrischen Streitkräfte und der loyale Sicherheitsapparat. Eine Zusammenarbeit zwischen den syrischen Streitkräften inklusive des Sicherheitsapparates mit den Kräften der Koalition gegen den IS gibt es bis heute auf keiner Ebene: weder auf der politischen noch auf der militärischen oder nachrichtendienstlichen Ebene. Es grenzt geradezu an ein Wunder, dass es bis heute zu keinen operationsbedingten Zwischenfällen gekommen ist.
Anders als etwa in Libyen oder in Ägypten vor dem Arabischen Frühling ist es Assad gelungen, sich der Loyalität der syrischen Streitkräfte und des Sicherheitsapparates zu versichern. Beobachter gehen davon aus, dass sich dies auf absehbare Zeit nicht ändern wird. Trotz Embargomaßnahmen und enormer Verluste an Soldaten sowie militärischer Infrastruktur (Territorium, Flughäfen, Munitionslager und militärischen Gerätes), können sich die syrische Streitkräfte in den Kerngebieten entlang der Küste halten. Russland, Iran und die Hisbollah sind Verbündete der syrischen Kräfte. Ohne deren Unterstützung hätte sich das Regime Assad nicht so lange halten können.
Sowohl Russland als auch der Iran legen Wert darauf, derzeit keine Truppen im Land stationiert zu haben, wohl aber Berater zu entsenden und Ausrüstung und Bewaffnung an die syrischen Streitkräfte zu liefern – Tendenz steigend. Eine politische, iranische Initiative im Konflikt ist derzeit nicht erkennbar.
Den syrischen Streitkräften stehen ein Vielzahl von oppositionellen Milizen, der IS und auch die al-Nusra-Front gegenüber. In den Reihen dieser Extremisten und Terrororganisationen sollen sich nach Angaben des syrischen Sicherheitsapparates Jihadisten aus 80 verschieden Ländern befinden. Die Kämpfer der Opposition rekrutieren sich vorwiegend aus der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit.
Wechselnde Allianzen kennzeichnen den Bürgerkrieg. Die größte Gefahr für das syrische Regime geht nicht vom IS aus, sondern von den sunnitischen Kämpfern, die als Mitstreiter der sogenannten Opposition meist unkoordiniert vorgehen. Hinzu kommt, dass Gruppierungen wie der IS und die al-Nusra Front auch gegeneinander um die Vorherrschaft kämpfen. Die ursprünglich von den USA und dem Westen unterstützte „Freie Syrische Armee“ existiert mittlerweile nicht mehr. Entweder haben sich die Kämpfer in den Westen abgesetzt oder sich anderen Gruppierungen angeschlossen.
Tragischerweise haben sich die USA und ihr Verbündeten schon frühzeitig auf eine Strategie verständigt, terroristische Organisationen wie den IS, aber auch die al-Nusra mit Waffen, Gerätschaften und Ausbildung zu versorgen. Glaubhaften Quellen aus dem Irak aber auch aus dem Umfeld des syrischen Sicherheitsapparates zufolge hält diese Unterstützung bis zum heutigen Tage an. Das politische Zauberwort war die Unterstützung einer „moderaten“ Opposition mit der Zielsetzung, das Assad-Regime zu stürzen. Das Wort „moderat“ in diesem Zusammenhang bedeutet für die USA, als Gesprächspartner gerade noch akzeptabel zu sein. Bis heute werden seitens dieser Koalition sowohl die al-Nusra-Front, als auch der IS mit Waffen und auch finanziell unterstützt. Solche Strategien gehen sogar noch weiter: Die al-Nusra Front wird von den USA, aber auch von der Türkei unterstützt, um sie gegen den IS aufzurüsten und zu nutzen. Nach syrischer Lesart und auch nach dem Urteil der Vereinten Nationen sind beide Organisationen als terroristisch einzustufen. Es ist schon sonderbar, dass der IS expandiert, seit diese Koalition den Einsatz gegen den IS aufgenommen hat. Russland nimmt genau diesen Misserfolg zum Anlass, die derzeitige Koalition gegen den IS als gescheitert zu beurteilen.
Dieselbe Koalition, die vorgibt gegen den Terror zu kämpfen, unterstützt ihn im Süden, im Norden und Nordwesten des Landes, argumentiert der syrische Präsident in einem Mitte September in russischen Medien veröffentlichten Interview. Angesprochen sind hier Jordanien, Saudi-Arabien, Qartar, die Türkei, aber auch die USA. Es ist die Unterstützung der sogenannten Antiterrorkoalition an syrische Extemistengruppen, die eine Zusammenarbeit des Assad-Regimes mit dieser Koalition schwierig bis unmöglich macht. Auch Europa macht sich hier schuldig, werden doch terroristische Gruppierungen mit dem Präfix „moderat“ tituliert, um sie in den Augen des Westens als Gesprächspartner aufzubauen. Das ist nicht neu. Fehleinschätzungen dieser Art begleiten die westliche Nah-/ Mittelostpolitik seit Jahren. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang wäre die Unterstützung der USA an die Taliban, ohne die es die al-Kaida in dieser Form nicht geben würde, ebenso wenig den Aufstieg der Moslembrüderschaft und mit Sicherheit nicht den IS in der Form, wie wir sie heute kennen.
Das zeigt sehr deutlich die jahrelangen Defizite in Beurteilung von Ursache und Wirkung in einer Nahostpolitik, die Europa zu einem Mitläufer und Befehlsempfänger degradierte. Es scheint so, dass der nicht abreißende Flüchtlingsstrom aus diesen Regionen nach Europa die Rechnung für das kritiklose Mittragen von außenpolitischen Zielen ist, die inhaltlich und in ihrer Umsetzung fragwürdig und falsch waren.
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