In der Sondersitzung des Innenausschusses des Hamburger Landesparlamentes zwei Wochen nach der Gewaltorgie beim G-20-Gipfel berichtete der Leiter des in Hamburg eingesetzten Anti-Terrorkommandos, Michael Zorn, von dem dramatischen Einsatz am Haus Schulterblatt 1. Seine Kollegen seien vom Dach aus "mit Eisenstangen, großen Steinen, Paletten und so weiter beworfen worden". Für seine Kollegen habe Lebensgefahr bestanden. "Wir haben deshalb um 23.37 Uhr die Dachkante mit Gummigeschossen aus 40-mm-Waffen beschossen, haben also auch keine Personen getroffen oder treffen wollen, sondern gezielt die Dachkante beschossen."
"Ich selbst habe erst im Innenausschuss von dem Einsatz der Gummigeschosse erfahren", sagt GdP-Chef Kirsch. Der Gewerkschafter ist bei Weitem nicht der Einzige, dem es so erging. Bis heute ist öffentlich nicht bekannt, um was für Teile es sich handelte, wer das Abfeuern der Gummigeschosse befohlen hatte, wer die Munition mit sich führte und letztendlich damit geschossen hat. All das wisse er nicht, erklärt Kirsch. Klar sei für ihn lediglich: "Die Verwendung der Gummigeschosse war rechtswidrig." Doch auch das ist umstritten.
"Hilfsmittel der körperlichen Gewalt"
Die Pressestelle der Hamburger Polizei bestätigt lediglich, was bekannt ist, nämlich dass Gummimunition eingesetzt worden ist. Ansonsten hüllt sie sich in Schweigen. Auch zur Rechtmäßigkeit des Gebrauchs der Gummiteile wollte sie sich nicht äußern. Alle Einzelaspekte wie die Frage, wer den Befehl zur Verwendung der Geschosse gegeben habe, beträfen die "Polizeitaktik, zu der aus grundsätzlichen Erwägungen keine Angaben gemacht werden", erklärt eine Sprecherin des Hamburger Präsidiums auf Anfrage von n-tv.de.
Den möglichen Waffengebrauch der Polizei regeln die Hamburger Vorgaben "zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung", Landespolizeigesetz genannt. Es schreibt vor, wann und mit welchen Mitteln gegen Schwerstkriminelle, Terroristen und andere mutmaßliche oder tatsächliche Gewalttäter körperlich vorgegangen werden darf, die andere in akute Gefahr bringen, ihnen gar nach dem Leben trachten. Als "Hilfsmittel der körperlichen Gewalt" nennt das Gesetz unter anderem Fesseln, Wasserwerfer, technische Sperren, Reiz-, Betäubungs- und Sprengstoffe. Als Waffen sind Schlagstock, Distanz-Elektroimpulsgerät, Pistole, Revolver, Gewehr und Maschinenpistole aufgeführt.
Die Hamburger Rechtsanwältin Ulrike Donat, die nach eigenen Angaben seit vielen Jahren als Juristin in der linksalternativen Szene engagiert ist und sich immer wieder kritisch mit Polizeiarbeit befasste, vertritt dieselbe Position wie GdP-Chef Kirsch. "Der Einsatz der Gummigeschosse war rechtswidrig." Ihrer Meinung nach ist er nicht vom Hamburger Polizeigesetz gedeckt, weil darin die Gummigeschosse nicht genannt werden. Donat sagt, auch die beim G-20-Gipfel eingesetzten Polizisten aus anderen Bundesländern und Österreich hätten sich an rechtliche Vorgaben des Stadtstaates halten müssen.
"Verhältnismäßiges Einsatzmittel"
Ihr Rechtsanwaltskollege Richard Seelmaecker, der zugleich justizpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion in der Bürgerschaft ist, sieht es anders. Sofern die Gummigeschosse mit den im Gesetz genannten Waffen abgefeuert worden seien, "ist dies grundsätzlich rechtlich möglich". Wenn Wasserwerfer nichts mehr brächten und der Einsatz scharfer Munition nicht in Frage komme, könne "in Sonderfällen von 30-40 Metern Distanz-Gummi-Wuchtgeschosse ein verhältnismäßiges Einsatzmittel sein". Dass sie in Deutschland so gut wie nie zum Einsatz kämen, liege an ihrem sehr engen Anwendungsspektrum und der Gefahr, Unbeteiligte zu verletzten.
Das ist der Grund, warum die GdP Gummigeschosse generell strikt ablehnt. "Wir wollen nicht, dass etwa bei einem Einsatz gegen Fußball-Hooligans ein Kind oder seine Eltern zu Schaden kommen", sagt Kirsch. Außerdem könnte die Verwendung von Gummimunition dazu führen, dass eine Gewaltspirale in Gang gesetzt werde, "die keiner will". Seelmaecker betont denn auch, da Waffen selbstverständlich verletzen könnten, sei es umso wichtiger in einem Rechtsstaat wie Deutschland, "die Verhältnismäßigkeit zu wahren und diese nur dann und auch lediglich in dem Umfang anzuwenden, wie es verhältnismäßig ist".
Nach Auffassung des innenpolitischen Sprechers der CDU-Fraktion, Dennis Gladiator, war das gezielte Beschießen der Dachrinne "in einer derartigen Ausnahmesituation gerechtfertigt, um die Gewalttäter vom Dach zum Rückzug zu bewegen". Nach Worten von Einsatzleiter Zorn gelang dies auch. Wegen des Abfeuerns der Gummigeschosse und der Bedrohung mit "Ziellasern unserer eingesetzten Waffen" habe es "massive Rückzugstendenzen" auf dem Gerüst und dem Dach des umkämpften Hauses gegeben, was die Lage entschärft habe. Lebensgefahr für die Kollegen seiner Einheit habe auch deshalb bestanden, da sie weniger gegen Wurfgeschosse, sondern vielmehr gegen Munition aus Feuerwaffen geschützt seien.
Wer hat den Befehl gegeben?
Ungeachtet dessen fordern Abgeordnete aus Koalition und Opposition Aufklärung der Vorgänge. Die stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Anna von Treuenfels-Frowein betont: "Ob Gummigeschosse rechtmäßig eingesetzt wurden oder nicht, ist eine von vielen offenen Fragen, die im Sonderausschuss zum G20-Gipfel schonungslos aufgeklärt werden müssen." Aktuell ließen "die Fakten, die bislang durch die zuständigen Behörden geliefert wurden", keine rechtliche Bewertung zu. "Die Verantwortlichkeiten müssen klar benannt werden." Gladiator pflichtet bei: Der Sonderausschuss werde auch die Frage klären, "wer die Entscheidung zum Gebrauch der Gummigeschosse traf und wie der Einsatz konkret abgelaufen ist".
Die Linken-Abgeordnete Christiane Schneider, die Vizepräsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft ist, nennt das Verschießen von Gummimunition "rechtlich zumindest sehr problematisch". Auf eine Anfrage ihrer Fraktion habe der Senat vor Beginn des G-20-Gipfels geantwortet, Abschussvorrichtungen, die für Reizgas oder Gummigeschosse verwendet werden könnten, sollten nicht zum Einsatz kommen. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie verwendet wurden, ohne dass der Gesamteinsatzleiter Hartmut Dudde die Freigabe verfügt oder den Einsatz direkt angeordnet hat."
Aber wer war es dann? Auch das soll nun der Sonderausschuss klären. Die Grünen sehen den Gebrauch von Gummigeschossen ebenfalls "äußerst kritisch." Ihre innenpolitische Sprecherin Antje Möller kündigt an, die Notwendigkeit des Einsatzes "im Sonderausschuss zu hinterfragen und von der Polizei detailliert darstellen zu lassen". Mit Sicherheit wird ein Polizist wieder genau hinhören: GdP-Chef Kirsch.
Quelle: n-tv.de
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