Für den Wahlkampf taugt der Konflikt in den Augen der Parteien offensichtlich nicht. Nach sieben Jahren anhaltender Kämpfe ist der blutigste Konflikt dieser Tage ein Stück weit aus dem Blick der Öffentlichkeit verschwunden. Zu festgefahren, zu deprimierend, so der Eindruck. Aber was ist nun los in dem Land?
Machthaber Baschar al-Assad konnte seinen territorialen Einfluss seit 2015 verdoppeln. Dank der Hilfe Russlands, dem militärisch stärksten Unterstützer des Regimes, herrscht er nun wieder über 60 Prozent der Fläche Syriens und 75 Prozent der Bevölkerung.
Größere kriegerische Auseinandersetzungen haben sich auf einige Landesteile reduziert: auf das Umland von Damaskus, wo Rebellengruppen noch vergeblich darauf hoffen, dem Regime in seinem Machtzentrum widerstehen zu können; auf Deir ez-Zor, dessen Belagerung durch den selbsternannten Islamischen Staat (IS) die Regimekräfte nun nach drei Jahren brechen konnten; auf Rakka, der Quasi-Hauptstadt der Terrormiliz.
Auch die Provinz Idlib ist noch umkämpft, nimmt aber eine Sonderrolle ein. Das Regime verschont die Provinz in gewissem Maße. Kenner des Landes wittern einen blutigen Plan. "Wir fürchten uns davor, was passiert, wenn das Regime mit seinen Kämpfen an anderen Orten fertig ist", sagt Bente Scheller, die das Nahost-Büro der Heinrich Böll Stiftung in Beirut leitet. Sind die Assad-Gegner in anderen Teilen des Landes militärisch besiegt, so die Befürchtung, könnte in Idlib ein zweites Aleppo folgen – eine rücksichtslose Bombardierung, um die Opposition im Land endgültig zu zerschmettern. Diese wäre besonders dramatisch, weil Assad dafür sorgt, das seine Gegner aus anderen Landesteilen im Angesicht ihrer Niederlage nach Idlib umgesiedelt werden. Zusammentreiben und auslöschen.
Ende Juli hat der Al-Kaida-Ableger Haiat Tahrir al-Scham (HTS) die Vormachtstellung in Idlib übernommen. Assad wird sie wohl, wie schon bei anderen Gegenden geschehen, als Terroristen-Hort einstufen. Doch Scheller sagt: "In dieser Provinz ist wie in den meisten anderen der Großteil der Bevölkerung unbewaffnet. Da sind sehr viele Zivilisten, Ärzte, Krankenschwestern und Lehrer, die dorthin gebracht wurden."
"Wie soll Assad beherrschen, was er wiedererobert?"
Assads Gegner geraten unter immer größeren Druck. Die moderaten Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) spielen schon lange keine nennenswerte Rolle mehr. Die Tage des IS-Kalifats sind nach Irak auch in Syrien bald gezählt. Geländegewinne verzeichnen neben dem Regime vor allem die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), die sich vor allem aus Kurden, aber auch Arabern rekrutieren. Sie sind praktisch das Bodenpersonal der internationalen Anti-IS-Koalition. Doch auch, wenn die syrischen Kurden mittlerweile große Teile des Nordens in einer weitreichenden Selbstverwaltung kontrollieren, ist unklar, wie weit sie ihr Territorium noch ausweiten können. Und vor allem, ob sie in eroberten Gebieten bleiben. Einige der Landstriche, die jetzt in den Händen von Kurden sind, wurden zuvor von sunnitischen Arabern bewohnt. Zudem besteht stets die Gefahr einer Konfrontation mit dem Regime. Derzeit wollen beide, Assads Truppen und die SDF, den IS aus Deir ez-Zor vertreiben. Und letztlich gibt es keinen Zweifel daran, dass Assad der stärkste Akteur im Land ist.
Stärke bedeutet in diesem Fall aber nicht zwingend Macht. Von echter Kontrolle kann laut der Syrien-Kennerin Scheller noch lange keine Rede sein. "Echte Kontrolle hat Assad ja noch nicht einmal in den Gebieten, in denen er auf der Landkarte regiert", sagt sie. Scheller spielt auf die verbündeten Assads an. Neben Russland sind das die libanesische Hisbollah, Einheiten aus dem Irak, Afghanistan und Pakistan, die teils unter Führung der iranischen Revolutionswächter stehen. Das sind alles Spieler, die sich nicht durch Assad kontrollieren lassen, ohne die Assad aber machtlos wäre. "Wie soll Assad beherrschen, was er wiedererobert?", fragt Scheller. "Ich sehe da bisher noch überhaupt keine Strategie."
Eine russische Exit-Strategie ist nicht bekannt
Wenn der IS militärisch besiegt ist, könnten sich in Syrien mit Blick auf die Partner Assads wieder neue Dynamiken entwickeln. Davon ist Scheller überzeugt. Insbesondere Russland setzte den Machthaber ja als Bastion gegen Terrorgruppen in Szene. "Was soll mit Assad passieren, wenn der IS geschlagen ist?", fragt Scheller. "Seine Menschenrechtsverbrechen sind in den vergangenen Jahren ja nicht weniger geworden."
Auch der jüngste Bericht der Vereinten Nationen zum Chemiewaffeneinsatz im syrischen Chan Scheichun im April könnte Bewegung bringen. Der Bericht benennt in bisher ungekannter Deutlichkeit den Verursacher: das syrische Regime. Das ist brisant, weil Syrien sich 2013 in einem Abkommen bereiterklärte, sein Arsenal an Chemiewaffen zu zerstören. Damals gelang es, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit Zustimmung Russlands eine Resolution zu verabschieden, die Sanktionen für den Besitz und Einsatz von Giftgas vorsieht – unter Kapitel VII der UN-Charta. Verstößt Syrien gegen die Resolution, sind seither wirtschaftliche Sanktionen und militärische Reaktionen eine Option. Scheller sagt: "Das kommt der Möglichkeit einer Intervention schon sehr nahe." Und sie fügt hinzu: "Russland hat diese sehr starke Resolution mitgetragen und ist auch Garantiemacht dafür, dass das syrische Regime seine Chemiewaffen abgibt."
Ob sich der Kreml durch den UN-Bericht nun beindrucken lässt oder gar die Unterstützung Assads zurückfährt? Ungewiss. Eine russische Exit-Strategie aus dem syrischen Bürgerkrieg ist bislang nicht bekannt. Zumindest liefere der Bericht aber einen neuen Impuls für die Friedensgespräche, sagt Scheller, Gespräche, die derzeit praktisch nicht vorankommen, auch weil die Rolle des Machthabers in Damaskus nicht geklärt ist. Assad pocht noch immer darauf, bald wieder ganz Syrien zu kontrollieren. Davon ist er aber noch weit entfernt.
Quelle: n-tv.de
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