Wie Anis Amri zum Terroristen wurde

  19 Dezember 2017    Gelesen: 1020
Wie Anis Amri zum Terroristen wurde
In den Wirren des Arabischen Frühlings macht sich Anfang 2011 ein junger Tunesier auf den Weg nach Europa. Anis Amri fällt auf durch Schüchternheit und Höflichkeit, landet jedoch bald im Gefängnis. Dort macht er eine Wandlung durch.
Als Anis Amri Ende Februar 2011 auf Lampedusa ankommt, herrscht stürmisch-kaltes Winterwetter. Trotzdem kommen kommen jeden Tag kleine Kutter und Ruderboote auf der Insel an, viele mit nicht einmal einem Dutzend Jugendlichen besetzt. Die meisten kommen ganz allein. Jenseits des Mittelmeers hat trotz der Kälte der Arabische Frühling begonnen: In Tunesien rebellieren zehntausende Jugendliche, fordern vom Regime Ben Ali Jobs und eine Zukunft.

Einer der Ankömmlinge auf Lampedusa heißt Anis Amri. Knapp sechs Jahre später wird er den ersten islamistischen Terroranschlag in Deutschland verüben, bei dem es Todesopfer gibt. Am 19. Dezember 2016 steuert Amri am Berliner Breitscheidplatz einen Lkw in den Weihnachtsmarkt und ermordet so zwölf Menschen. Was hat den jungen Mann, der damals gerade 18 Jahre alt ist, dazu gebracht?

67.000 junge Tunesier kommen in jenem Frühjahr nach Lampedusa. Die nachträgliche Auswertung von Hunderten Stunden Drehmaterial von n-tv und RTL hat Erfolg: Am 3. April 2011 erfasst eine Kamera Amri im bewegten Bild. Er nimmt an einer Protestaktion teil. Er und die anderen Jugendlichen wollen nur eines: Weg von der Insel, ein neues Leben in Europa anfangen. Anis Amri hätte eigentlich gar kein Recht, in dem katholischen Jugendheim zu sein, in dem er untergebracht ist, aber nicht bleiben will. Er ist bereits 18 Jahre alt, gibt sich aber als 16 aus. "Ansonsten aber hat er alles korrekt angegeben, sich also nicht mit falscher Identität eingeschlichen", sagt Staatsanwalt Roberto Piscitello.

Ein ganz normaler Jugendlicher

Amri hofft, als Jugendlicher nicht gleich abgeschoben zu werden. Bei der Protestaktion zünden Amri und andere Jugendliche die Matratzen im Heim an. Sie bewerfen Polizisten mit Steinen. Die Filmaufnahmen von April 2011 zeigen Amri am Boden sitzend. Zwei Tage später wird er offiziell registriert, zusammen mit Yakoubi Montassar, den er auf dem Boot kennengelernt hat. Amri, sein Freund Montassar und weitere vier wirklich noch minderjährige Tunesier werden Ende April 2011 nach Belpasso verlegt, einen kleinen Ort am Fuße des Ätna in der Nähe von Catania. Sie kommen in einem katholischen Jugendheim unter, in dem sonst meist nur sehr viel jüngere Opfer von Mafia-Fehden untergebracht sind. Der Heimdirektor von damals, Antonio Vasto, erinnert sich gut an den "hübschen, aber sehr schüchternen" Anis Amri. "Er sprach kaum, aber lächelte viel."

Auf den Fotos aus dieser Zeit sieht man einen Anis Amri, in dem man keine Züge des Attentäters vom Breitscheidplatz erkennen kann, und einen strenggläubigen Muslim schon gar nicht: Er trinkt Alkohol, raucht, freundet sich mit Jugendlichen aus dem Dorf an, ist an Mädchen interessiert. Aber schnell kommt es zu Konflikten in Belpasso: "Er mochte sich der Disziplin im Heim nicht unterordnen", erzählt Antonio Vasto. "Die jungen Tunesier wollten Zigaretten und Alkohol, und sie wollten weg. Wir haben versucht, ihnen eine Arbeit zu organisieren hier im Dorf, aber das ging ja nicht, sie hatten ja keine Aufenthaltsgenehmigung".

Die Jugendlichen wollen nur weg, nach Frankreich oder Belgien, wo sie die Sprache sprechen, runter von der Insel. Am 23. Oktober 2011 kommt es wieder zum Streit. Anis Amri und seine Freunde haben Wein aus dem Dorf mitgebracht. Ein Erzieher entdeckt das, nimmt ihnen die Flasche weg. Später am Abend zünden die Jugendlichen, diesmal ist Amri der Rädelsführer, drei Zimmer im Haus an. Die Methode mit der Brandstiftung hat schließlich schon einmal funktioniert.

Radikalisierung im Gefängnis

Dieses Mal aber wird Anis Amri verhaftet und zu vier Jahren Haft verurteilt. Im Sommer 2012 lernt ihn die Sozialarbeiterin Pierluisa Rizzo im Luigi-Bodenza-Gefängnis von Enna kennen. Sie übt mit den jungen Gefangenen ein Theaterstück ein. "Anis Amri sprach schon ordentlich italienisch, aber eine Rolle konnte er nicht spielen, weil er zu schüchtern war. Also haben wir ihn die Trommel spielen lassen", erinnert sie sich. Rizzo merkt, dass Amri Probleme hat: "Amri war ein Junge auf der Suche nach einer Identität. Einer wie viele, die wir hinter den Gefängnismauern treffen. Er war sehr, sehr jung und wurde sehr schwer bestraft im Verhältnis zu der Straftat, die er begangen hatte. Ich glaube, dass er die Strafe nicht akzeptiert hatte. Er war sehr verschlossen, schüchtern geradezu, aber auch sehr wohlerzogen." Sie habe gespürt, "dass er eine enorme Wut im Bauch hatte. Er fühlte sich maßlos ungerecht behandelt - vier Jahre Haft für drei angezündete Matratzen".

Die Wut bricht immer wieder aus Amri heraus. Wenn er Streit hat, dann geht es um eingeschmuggelten Alkohol, das Fußballspielen auf dem Hof, um Kleinigkeiten. Anis Amri will sein "Recht" durchsetzen. Der Direktor der italienischen Haftanstalten, Calogero Piscitello, ist ratlos, wie der junge Mann sich zum Attentäter wandeln konnte. "Als er auf Lampedusa ankam, auch beim Brand in Belpasso, war er ein junger Mann mit Hang zu Gewalt, aber sicherlich kein Terrorist. Es gab aber einen Vorfall im Gefängnis, der uns sofort alarmierte. Da bedrohte er einen Mitgefangenen, rief, 'ich schlage dir den Kopf ab wie allen Christen'. Aber weder davor noch danach kam so etwas wieder vor." Fortan wird Amri bei den Behörden als Gefährder eingestuft.

Im selben Jahr schreibt Amri der Gefängnisverwaltung, dass er verlegt werden wolle, um die Mittlere Reife abzulegen. Der Polizei bekannte radikale Mitinsassen hat er nicht. "Wir müssen davon ausgehen", so Piscitello, "dass er sich allein radikalisiert hat." Internet, radikale Bücher oder Besucher sind im Gefängnis verboten. Amri übernimmt dort allerdings die Rolle des Vorbeters für andere muslimische Gefangene.

Bruch mit dem alten Freund

Nach der Haftentlassung im Mai 2015 versucht Italien den Gefährder Amri nach Tunesien abzuschieben, aber Tunis behauptet, er sei nicht tunesischer Staatsbürger. Er bekommt den Ausweisungsbescheid in die Hand gedrückt und hat nun theoretisch eine Woche Zeit, das Land zu verlassen. Er geht direkt ins Haus seines Freundes Yakoubi Montassar in Aprilia bei Rom, der dort eine Italienerin, Gessica geheiratet hat. Bei ihnen verbringt Amri im Sommer 2015 seine letzte Woche in Italien. Gessica erzählt: "Er stand um fünf Uhr morgens auf, dann hat er gebetet, im Koran gelesen und geduscht, von morgens bis abends. Auf seiner Facebook-Seite habe ich dann diese schwarzen Flaggen entdeckt und ihn gefragt, was das sei, ich wusste das ehrlich nicht. Da sagte er, das seien Koranverse." In Wahrheit handelt es sich um Propagandamaterial des Islamischen Staates.

Auch Amris Freunde posten auf der Seite IS-Flaggen. "Er hat mit meinem Mann immer gestritten, wollte uns verbieten zu rauchen, Wein zu trinken. Er hat den ganzen Tag auf dem Sofa gelegen, gebetet, sich geduscht und telefoniert", erinnert sich Gessica. "Nach einer Woche hat meine Mutter zu ihm gesagt: Entweder arbeitest du wie wir, oder du gehst. Und so haben wir ihn rausgeschmissen." Die Italienerin hat eine Erklärung, wie Amri sich radikalisiert hat. "Er hat mir gesagt: Vier Jahre war ich allein im Gefängnis, meine Familie hatte mich vollkommen verlassen, ich hatte niemanden mehr, nur noch Allah." Amris Freund Montassar sitzt heute eine Reststrafe für Drogenhandel und den Brand vom Belpasso ab – aber mit Anis wollte er schon damals nichts mehr zu tun haben.

Die Sozialbetreuerin Pierluisa Rizzo sagt, sie habe die Entwicklung des späteren Attentäters nicht geahnt. Er sei jedoch allein und traurig gewesen, weil er zu seiner Familie keinen Kontakt mehr gehabt habe. "Als ich das Foto aus Berlin sah, wollte ich es erst gar nicht glauben. Ja, aber das war unser Amri, der schüchterne Junge." Wie und wo genau es Klick gemacht hat im Kopf von Anis Amri wird niemand jemals genau wissen. Es hat wohl einige Abzweigungen auf dem langen Weg zum Mörder vom Breitscheidplatz gegeben. Als Islamist kam Amri aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf Lampedusa an. Anhänger des Islamischen Staates war er erst im Sommer 2015, als er Italien verließ – in Richtung Deutschland.

Tags:


Newsticker