Die 500-Millionen-Dollar-Babys

  26 Januar 2018    Gelesen: 3002
Die 500-Millionen-Dollar-Babys

1934 gebar die Kanadierin Elzire Dionne Fünflinge - eine Sensation. Die Mädchen kamen in die Obhut von Behörden, wurden isoliert und ausgestellt wie Tiere im Zoo. Für den Staat ein gigantisches Geschäft.

 

Die vier jungen Frauen wollen nicht fotografiert werden, an diesem Augustmorgen 1954. Sie trauern um ihre Schwester Émilie, die mit erst 20 Jahren bei einem epileptischen Anfall erstickt ist. Seit Morgengrauen sitzen sie um den offenen Sarg im Wohnzimmer ihres Elternhauses, übermüdet, verzweifelt, ratlos: Eine Welt ist zusammengebrochen für Cécile, Annette, Yvonne und Marie Dionne.

"Dieser Körper war unser Körper, entstanden aus dem gleichen Ei! Wie kann es sein, dass ein Teil einer Kreatur stirbt, der Rest aber weiterlebt?", fragen die Schwestern 1995 in ihrer Autobiografie.

Doch Fotograf Arthur Sasse beharrt auf seinem Recht und erinnert die Frauen daran, dass sie vertraglich zu Aufnahmen verpflichtet seien. "Nur eins", fordert Cécile. Sasse drückt auf den Auslöser - und knipst das letzte Foto, das die Dionnes vereint zeigt. Vier in Schwarz gekleidete Frauen, die mit leerem Blick auf die vor ihnen aufgebahrte Schwester schauen.

Als "Bild der Woche" bewarb das "Life"-Magazin die Aufnahme am Kiosk. Und Tausende griffen zu: Émilies tragischer Tod geriet zum Medienspektakel. Selbst in einem der schwersten Momente ihres Lebens ließen sich die Schwestern noch vermarkten. Warum?


Weil sie es gewohnt waren zu gehorchen, auf Kommando zu lächeln, auch wenn ihnen zum Heulen zumute war. Und das seit ihrer spektakulären Geburt am 28. Mai 1934: Die eineiigen Dionne-Mädchen waren die ersten Fünflinge der Welt, die allesamt überlebten.

Mit Rum gefüttert

Je 23 Zentimeter waren die Schwestern lang, als sie hoch im Norden Kanadas in einem Bauernhaus ohne fließendes Wasser und Elektrizität zur Welt kamen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Winzlinge einzeln zu wiegen - zusammen brachten sie gerade mal 6670 Gramm auf die Waage.

"Wie Ratten" hätten die bläulich-dürren Frühchen ausgesehen, erzählte Roy Allan Dafoe laut "New York Times". Der Arzt war zur Stelle, als Elzire Dionne, 25, im Minutentakt die Mädchen gebar.

Dafoe räumte den Babys keinerlei Überlebenschancen ein und rief einen Geistlichen zur letzten Ölung herbei. Keiner der bis dahin bekannten Fünflinge hatte länger als 50 Minuten gelebt. Doch die Mädchen, gefüttert mit einer Lösung aus Maissirup, Wasser, Kuhmilch und Rum, kamen durch - eine medizinische Sensation. Mit einem Schlag hatte sich die Kinderschar im Hause Dionne auf zehn verdoppelt.

Vater Oliva raufte sich die Haare: Wie alle anderen litt auch er unter Armut und Entbehrungen in der Großen Depression, hatte einen Kredit abzuzahlen, wusste nicht, wie er seine Kinder satt bekommen sollte. Auf Anraten des Arztes Dafoe und eines Priesters willigte er ein, die Mädchen bei der Weltausstellung in Chicago zu präsentieren - für 250 Dollar die Woche, eine Riesensumme für die Familie.

1301 Wutausbrüche in 16 Monaten

Am nächsten Tag versuchte Oliva Dionne, den Vertrag rückgängig zu machen. Zu spät: Das Sozialministerium von Ontario entschied, die Kinder zu ihrem eigenen Schutz unter staatliche Obhut zu stellen. Um sie sodann schamlos auszubeuten.

"Unsere Kindheit glich einem sehr langen Winter", sagten die beiden heute noch lebenden Schwestern Cécile und Annette Dionne im Mail-Interview mit einestages. "Zwar mussten wir weder auf Essen noch auf materielle Annehmlichkeiten verzichten. Unser Hunger nach Liebe jedoch wurde nicht gestillt."

Eigens für die Dionne-Fünflinge baute man in ihrem Geburtsort Corbeil ein Mini-Krankenhaus. Dort zog Dafoe die Mädchen mit Hilfe von Krankenschwestern auf. Penibel registrierten Wissenschaftler jeden Schnupfen, jede Gefühlsregung der Schwestern. Für die Zeit zwischen dem 22. und 38. Lebensmonat notierte der Kinderpsychologe William E. Blatz "1434 emotionale Episoden", bedingt in "1301 Fällen durch Wut und in 133 Fällen durch Angst".

"Sozusagen die allerersten Kardashian-Kinder"

Bewacht durch Polizisten, abgeschirmt von der Außenwelt durch einen zwei Meter hohen Stacheldrahtzaun, lebten die Mädchen in völliger sozialer Isolation - wenn sie nicht gerade der britischen Krone vorgeführt wurden wie dressierte Mäuse. Um sie zu disziplinieren, banden die Krankenschwestern die Fünflinge mitunter an ihren Gitterbetten fest. Doch davon ist nichts zu sehen auf den zig Fotos und Filmen von den Dionne-Wonneproppen.

Sie zeigen die Mädchen, vergnügt strahlend, je nach Jahreszeit und Feiertag: mal mit Truthahn, mal vor der Weihnachtskrippe, mal mit Kommunionsschleier. Dick eingepackt auf dem Schlitten, im gehäkelten Badeanzug, in identischen Kleidchen auf dem Dreirad. "Die Medien waren das, was unsere Kindheit am meisten beeinflusst hat", so Cécile und Annette Dionne. "Wir waren ein zum Scheitern verurteiltes soziales Experiment. Sozusagen die allerersten Kardashian-Kinder."

Von drei Millionen Schaulustigen begafft

Weltweit erschienen die Aufnahmen der putzigen Mädchen in den Zeitungen. In der Werbung posierten sie für Maissirup und Spüli, Zahnpasta, Frühstücksflocken, Desinfektionsmittel und Schreibmaschinen. "Diese Fünflinge würden jedem Star die Show stehlen", schwärmte Schauspielerin Bette Davis - eine von etwa drei Millionen Schaulustigen, die in den Dreißigerjahren zum Anwesen der Dionne-Mädchen in Ontario pilgerten.

Zweimal täglich, um 11 und um 15 Uhr, öffneten Polizisten die Pforten von "Quintland". Rund um den Spielplatz der Mädchen befand sich ein U-förmiger, mit Spiegelglas versehener Korridor, durch den die Besucher die Fünflinge begaffen konnten. Den Schwestern war sehr wohl bewusst, dass sie beobachtet wurden: "Ich konnte sie hören, ihre Schatten sehen, sie sogar fühlen", so Annette Dionne.

Die eigene Vermarktung beschrieb sie so: "Wir waren die populärste Peep-Show der Welt." In den Jahren der Wirtschaftskrise mit Hunger, Armut, Massenarbeitslosigkeit luden die Bilder der putzigen Fünflinge zum Träumen ein.

Mit neun zurück zu den Eltern

Schätzungsweise 500 Millionen Dollar bescherten die Mädchen (Spitzname: "Golden Nuggets") der kanadischen Staatskasse. Dass die Regierung die Kinder erst den Eltern wegnahm, um sie dann auszustellen wie Zootiere, empörte die wenigsten. Bedenken äußerte der österreichische Psychologe Alfred Adler: "Das Leben in einem Glashaus ist dem menschlichen Glück nicht förderlich", warnte er.

Die Dionne-Fünflinge selbst jedoch beschrieben die Zeit im "Dafoe Hospital" als "paradiesisch" - und die Zeit nach ihrem neunten Geburtstag als Hölle. 1943 gewannen die Eltern nach einem zähen Rechtsstreit die Vormundschaft zurück. Fortan mussten die Mädchen unter einem Dach mit ihren Eltern und ihren Geschwistern leben.

Eine Tortur: Mutter Elzire schlug die Fünflinge und nahm ihnen die geliebten Puppen weg, beschimpfte sie als verwöhnte Prinzessinnen und hielt sie "wie Sklaven", so Cécile in einem Interview. Vater Oliva begrapschte die Kinder bei Ausfahrten im schwarzen Cadillac, massierte ihre Brüste und wollte Annette im Ferienhaus vergewaltigen, wie sie Jahrzehnte später öffentlich machte.

"Schreckliche Angst vor den Menschen"

In ihrer Not vertrauten sich die Schwestern dem Priester an, der sie unterrichtete. Er riet ihnen: Tragt dicke Mäntel, betet, verzeiht eurem Vater. "Es war das traurigste Zuhause, das wir je hatten", so die Fünflinge. Kaum waren sie volljährig, vollzogen die Dionnes den Bruch mit ihren Eltern. Doch niemand hatte sie auf die Welt da draußen vorbereitet. "Ich hatte schreckliche Angst vor den Menschen, wollte mich stets zurückziehen wie eine Auster in ihre Schale", schrieb Annette.

Drei der jungen Frauen, Marie, Yvonne und Émilie, wollten Nonnen werden, sich hinter dicken Klostermauern vor der Realität verschanzen. Dann stellte Marie sich doch dem Leben: Sie eröffnete einen Blumenladen, wie Cécile und Annette heiratete sie, bekam Kinder. Und starb viel zu früh - Marie erlag mit 35 Jahren einem Hirnschlag.

Eine späte Genugtuung wurde den drei übrig gebliebenen Fünflingen 1998 zuteil: Ontarios Ministerpräsident Mike Harris entschuldigte sich für die kommerzielle Ausbeutung - und gewährte den Frauen vier Millionen kanadische Dollar Entschädigung.


Heute sind nur noch zwei Dionne-Schwestern am Leben: Cécile und Annette. Beide scheuen die Öffentlichkeit und leben zurückgezogen. Cécile in Armut, weil ihr Sohn sich mit einem Großteil des Geldes aus dem Staub gemacht hat. Für alle Eltern von Mehrlingen haben Cécile und Annette Dionne eine klare Botschaft:

Quelle : spiegel.de


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