Politik in Europa: Keine Lehren aus der Geschichte?

  24 April 2018    Gelesen: 1421
Politik in Europa: Keine Lehren aus der Geschichte?

„Die Geschichte ist keine Lehrerin, sondern eine Wärterin: Sie bringt nichts bei, bestraft aber diejenigen, die nichts gelernt haben“, schrieb einst der russische Historiker Wassili Kljutschewski. Das stimmt: Die Strafen können schmerzhaft sein. Aber es hilft nicht immer: Es gibt immer wieder Menschen, die aus der Geschichte nichts lernen.

Der Zweite Weltkrieg wurde in dem Waggon „gepflanzt“, in dem die Siegermächte des Ersten Weltkrieges Deutschland zur Unterzeichnung der für Berlin erniedrigenden Kapitulation zwangen. Nicht umsonst zwang Hitler nach der Besetzung von Paris die Franzosen, denselben Waggon zu besteigen, und zwar zum gleichen Zweck. Die große Politik wird genauso von Emotionen getrieben, wie von wirtschaftlichen und anderen Interessen. Übrigens haben die Franzosen den historischen Waggon später verbrannt – offenbar vorsichtshalber.

Mit anderen Worten: Der neue Weltkrieg wurde vor allem durch den Friedensvertrag von Versailles, seine knechtenden Bedingungen und die Weigerung der Siegermächte provoziert, die Interessen der Verlierer zu berücksichtigen. Später, bereits 1945, wartete eine ganz andere Zukunft auf die Deutschen: Entnazifizierung und Demilitarisierung samt Wirtschaftshilfen. Also wurde diese „Frage“ der „Geschichtsprüfung“ im Allgemeinen richtig beantwortet. Auch die Gründung der Uno und ihres Sicherheitsrates, wo die ständigen Mitglieder das Vetorecht genießen, half im Laufe von vielen Jahrzehnten, die „Elefanten“ (Großmächte) vor ungeschickten Bewegungen im „Porzellanladen“ zu bewahren.

Dennoch ist die Politik im „Geschichtstest“ im Allgemeinen wieder durchgefallen. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten sie die Hoffnungen der Soldaten vereitelt, die in Galizien und bei Verdun gefallen waren. Und nach dem Zweiten Weltkrieg vereitelten sie die Hoffnungen der Russen in Stalingrad, der Engländer, die die Nordmeergeleitzüge bewacht hatten und dabei ertranken, und auch der Amerikaner, die in der Normandie verbluteten. Die Politik gestaltete die Welt wieder um – und zwar ganz zynisch, indem sie von ihren ideologischen und wirtschaftlichen Interessen ausging und dabei die Meinung der Völker völlig ignorierte. Und dadurch entstand wiederum die Basis für künftige Konflikte.

Russland und der Westen werfen einander immer wieder vor, im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges Hitler „begünstigt“ zu haben: Russlands „Sünde“ bestünde im Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939; die Russen verweisen ihrerseits auf das Münchner Abkommen von 1938, das in Russland besser als „Münchner Komplott“ bekannt ist. Aber beide Seiten ziehen es vor, zu verschweigen, wie sie in der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges Deutschland heimlich in Einflussräume aufteilten. Von einer solchen Episode erzählte der damalige britische Premier Winston Churchill in seinem Buch „The Second World War“.

Am 9. Oktober 1944, als schon klar war, wie der Krieg enden würde, drängten sich die Briten und Amerikaner dem sowjetischen Staatschef Josef Stalin als Gäste auf. Washington und London hatten das Ziel der Russland-Reise im Voraus abgesprochen.

„Die Atmosphäre wurde sachlich, und ich sagte: ‚Lassen Sie uns unsere Sachen auf dem Balkan regeln. Unsere Armeen befinden sich in Rumänien und Bulgarien. Wir haben dort unsere Interessen, Missionen und Agenten. Lassen Sie uns nicht wegen Kleinigkeiten streiten. Was England und Russland angeht, so wären Sie bereit, zu 90 Prozent Russland zu beherrschen, damit wir zu 90 Prozent Griechenland und halbe-halbe Jugoslawien beherrschen?‘

Während mein Vorschlag übersetzt wurde, nahm ich ein halbes Blatt Papier und schrieb: Rumänien (Russland – 90 Prozent, alle anderen – zehn Prozent), Griechenland (Großbritannien und die USA – 90 Prozent, Russland – zehn Prozent), Jugoslawien – 50:50 Prozent, Ungarn – 50:50 Prozent, Bulgarien (Russland – 75 Prozent, alle anderen – 25 Prozent). Ich überreichte diesen Zettel Stalin, der zu dem Zeitpunkt schon die Übersetzung gehört hatte. Es trat eine kurze Pause ein. Dann nahm er einen blauen Stift, markierte auf dem Papier einen großen Vogel und reichte es mir zurück.

Für die Regelung dieser Frage war nicht mehr Zeit nötig als dafür, das hier zu schreiben (…). Dann trat ein längeres Schweigen ein. Das mit dem Stift beschriebene Blatt lag mitten auf dem Tisch. Endlich sagte ich: ‚Finden Sie es nicht etwas zynisch, wenn wir diese Fragen, die für Millionen Menschen lebenswichtig sind, sozusagen Apercu regeln? Lassen Sie uns diesen Zettel verbrennen.‘ ‚Nein, behalten Sie ihn für sich‘, sagte Stalin.“

Churchill hatte natürlich Recht: Das war wirklich „etwas zynisch“: Rumänien, Griechenland, Jugoslawien, Ungarn, Bulgarien…

Bezüglich Polen konnten sich die Seiten nicht einigen, auch wenn Stalin auch da Churchill zufolge am Anfang gutmütig gewesen war, weil die Rote Armee das polnische Territorium kontrollierte. Daran ist Stanisław Mikołajczyk schuld, der die Interessen der polnischen Exilregierung vertrat und den der britische Premier aus London bestellt hatte. Zum Stein des Anstoßes wurde die Formulierung bezüglich der Grenzen. Die Polen wären bereit, die alte Curzon-Linie „als Demarkationslinie zwischen Russland und Polen“ zu akzeptieren. Die Russen bestanden jedoch auf der Formulierung „als Basis für die Grenze zwischen Russland und Polen“.

Niemand wollte nachgeben, was aber für die russisch-polnischen Beziehungen eher typisch war. Mikołajczyk wollte keine Zugeständnisse machen, wobei er wusste, dass Stalin (laut Churchill) nichts dagegen hätte, dass Mikołajczyk polnischer Ministerpräsident würde. Zudem begann die Debatte darüber, wie viele Anhänger Mikołajczyks und wie viele prosowjetische Polen an der Regierung teilnehmen sollten. Da wollte schon Stalin keine Zugeständnisse akzeptieren, der nichts gegen einen prowestlichen Premier hatte, dafür aber die qualitative Mehrheit im Kabinett bekommen wollte. Also konnten sich die Seiten nicht einigen, und Polen blieb vollständig „rot“.

Das erinnert sehr an die Aufteilung des „polnischen Kuchens“ durch Preußen, Österreich und Russland im 18. Jahrhundert. 200 Jahre später wurde im Grunde das Gleiche getan: Nur die Minen unter dem „Fundament“ der Welt waren etwas modifiziert. Und schuldig daran waren nicht nur die Sowjetunion samt Stalin, sondern auch Churchill und Roosevelt – also Großbritannien und Amerika. Aber mit der Deutung dieses historischen Faktes gibt es inzwischen ein Problem: Alles wird jetzt Stalin in die Schuhe geschoben.

Es gibt einen bekannten Ausdruck, der sich auf das Haus Bourbon bezieht: „nichts vergessen und nichts gelernt“. Auf das jetzige Europa treffen diese Worte nur teilweise zu. Denn das Gedächtnis ist ja selektiv: Stalin, die Sowjetunion, das sozialistische Lager und den Warschauer Vertrag gibt es schon längst nicht mehr, aber vor kurzem wurde in Polen ein weiteres Denkmal für sowjetische Soldaten abgerissen, die dieses Land vom Faschismus befreit hatten.

Dass die Polen den Stalinismus und das damit verbundene Unheil nicht vergessen, ist durchaus gerechtfertigt. Dass sie aber der russischen Soldaten nicht gedenken wollen, die Warschau und Krakau befreiten, ist schändlich. Und nicht nur Warschau und Krakau, wohlgemerkt, sondern auch Wien, Budapest, Prag, Bukarest und Belgrad.

Russische Soldatenfriedhöfe gibt es in ganz Europa. Und wenn das Gedenken an einfache russische bzw. sowjetische Soldaten in Osteuropa unter dem Vorwand der „Dekommunisierung“ beleidigt wird, ist das eine Sünde. Dazu neigen aber eher unkluge Menschen: Denn eine Sache ist, den Stalinismus zu hassen, und eine ganz andere, Soldaten zu beleidigen, die für die Befreiung deines Landes gefallen sind.

Schändlich ist auch, dass Europa, das nur zu gut weiß, wie schrecklich der Faschismus war, jetzt ganz ruhig zuschaut, wie in den Baltikum-Ländern Aktionen der noch am Leben verbliebenen SS-Veteranen und in Kiew Fackelzüge der dortigen Nazis und Antisemiten stattfinden. Das gilt dem „Nichts gelernt“-Punkt. Das ist natürlich beunruhigend.

Das menschliche Gedächtnis ist natürlich nicht perfekt. Vor kurzem stellte sich beispielsweise heraus, dass Bulgarien vergessen hat, dass gerade die Russen dieses Land von der ottomanischen Herrschaft befreit hatten. Der Zweite Weltkrieg liegt noch nicht so lange zurück, aber schon jetzt denken im Westen viele, dass Berlin von den Amerikanern besetzt wurde. Die Besinnungslosigkeit, Kurzsichtigkeit und der Zynismus der Politiker sind heutzutage viel gefährlicher als früher. Allein schon wegen der Atombombe. Und Atombomben gibt es in der Welt übrigens sehr, sehr viele.

Sieht jemand etwa noch nicht, dass die Wärterin (die Geschichte) schon ihre Ruten ausgepackt hat? Muss man sie wirklich noch weiter hänseln?

sputniknews


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