Renato L. Galeazzi
Tadschikistan, die kleinste und ärmste der nach dem Fall der Sowjetunion selbstständig gewordenen zentralasiatischen Republiken, ist seit vielen Jahren auf ausländische Hilfe angewiesen. Dieses Land ist 3,5-mal grösser als die Schweiz, hat gleich viele Einwohner und ist sehr gebirgig, mit Bergen bis über 7000 m ü. M. Das Bruttoinlandprodukt pro Einwohner ist jedoch 100-mal kleiner als das der Schweiz. Es hat kaum Exportgüter (etwas Baumwolle, Aluminium und Elektrizität) und wenig Bodenschätze. Wichtigste Einnahmequelle sind die Überweisungen der, vor allem nach Russland, emigrierten Tadschiken.
Als Teilrepublik der Sowjetunion besass Tadschikistan ein gut funktionierendes Gesundheitssystem, basierend auf einer niedrigschwelligen Grundversorgung durch gut ausgebildetes nichtärztliches Personal und einem übermässig ausgebauten, auf enger Spezialisierung basierendem Spitalsystem. Die Medizinische Universität war eine der bekanntesten und besten im nicht europäischen Teil der UdSSR. Nach dem Fall der Sowjetunion zerfiel dieses System, in erster Linie wegen des Wegzuges der russischen Bevölkerung und wegen Geldmangels. Die Grundversorger wurden nicht mehr bezahlt und suchten sich daher andere Tätigkeiten oder wanderten nach Russland aus. Die überdimensionierten Spitäler konnten das Personal nicht mehr bezahlen und sich infrastrukturmässig nicht mehr auf der Höhe halten, alte Einrichtungen konnten nicht mehr repariert und neue nicht gekauft werden. Auch die Ausbildung an der Universität wurde schlecht, da keine klinischen Ausbildungsmöglichkeiten vorhanden waren, keine neuen Lehrer mehr richtig vorbereitet werden konnten und die talentiertesten Leute auswanderten. Die Kinder- und Müttersterblichkeit nahm zu, die durchschnittliche Lebenserwartung ab.
Kämpfen gegen die Armut
Daher war es Ende der 90er Jahre, nach einem grausamen Bürgerkrieg, wichtig, dass die internationale Gemeinschaft ein Programm gegen die Armut startete, in dem die Reorganisation des Gesundheitswesens eine wichtige Rolle spielte. An diesem Programm war die Schweiz prominent beteiligt. Mit dem Projekt SINO (Tajik-Swiss Health Care Reform and Family Medicine Project), finanziert vom DEZA (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) und durchgeführt vom Schweizerischen Tropeninstitut, wurde die Grundversorgung nun auf hausärztliche und pflegerische Grundlagen gestellt und die Bevölkerung für gesundheitliche Fragen und Probleme sensibilisiert. Andere, mit ähnlichen Projekten vertretene Organisationen wie die Weltbank oder das US-Entwicklungshilfeprogamm, zogen sich nach einigen Jahren zurück. Schon zu Beginn war das Umschulen von als Spezialisten ausgebildeten Ärzten eine der Hauptaufgaben. Diese wurden in sechsmonatigen intensiven Kursen zu «Family Doctors» ausgebildet und stellen heute den Hauptharst der tadschikischen Hausärzte. Schon früh wurde aber erkannt, dass die ganze Kette der Aus-, Weiter- und Fortbildung einer grundlegenden Erneuerung bedarf. Dieser Teil des Programms wurde daher ausgeweitet und als MEP (Medical Education Reform Program) weiterführt.
Mentoring in Shujand (Pamir) – ein kurzer Erlebnisbericht
«Und wenn die Lawine kommt, muss ich mich halt sputen …»
Siebzehn Stunden dauerte die Fahrt im Landcruiser, bis wir unseren Stützpunkt – Khorog – im Pamir erreichten. Der vergangene Winter war hart, und der «Pamir-Highway» entlang der Grenze zu Afghanistan arg mitgenommen. Dreimal wurden wir durch Erdrutsche aufgehalten, mussten umsteigen, da kein Durchkommen mehr war.
Shujand ist ein zauberhafter Ort im unteren Teil des Bartang-Tales, das sich wild bis in die Hochebene des Pamir fortsetzt. Dr. Nazarmahmad Odinaev, Anfangs 50, betreut dort das Gesundheitszentrum, gemeinsam mit einigen Krankenschwestern und einem Famulus. Mit einfachsten Mitteln nimmt er die medizinische Versorgung im unteren Bartang-Tal wahr, macht Sprechstunde, Hausbesuche, oft sieben Tage in der Woche. Ein Auto hat er nicht, er geht zu Fuss, kann manchmal eine Mitfahrgelegenheit wahrnehmen. Im Winter liegt der Schnee zwei bis drei Meter hoch, und von den Bergen donnern immer wieder gewaltige Lawinen zu Tal. Und trotzdem macht sich Dr. Odinaev auch dann auf den Weg, um alte und gebrechliche Patienten zu besuchen. Er bahnt sich einen Pfad durch den Schnee, vielleicht gespurt von den Bewohnern des Tals mit ihren Yaks, und «wenn die Lawine kommt, muss ich mich halt sputen». Nach Hause kommt er abends dann nicht mehr, es ist zu gefährlich nach Einbruch der Dunkelheit, und so schläft er beim letzten besuchten Patienten zu Hause, meist am Boden im ungeheizten Vorraum des Pamir-Hauses. Am Morgen kehrt er zurück ins Dorf, wo die Arbeit im Zentrum weitergeht.
Drei Tage verbringen wir zusammen, eine anstrengende Zeit für uns beide. Am Anfang steht die Vertrauensbildung; werde ich als Schweizer Arzt in dieser Kultur akzeptiert, wird meine Gegenwart als störend empfunden? Wichtig ist dabei die Nachricht: Wir kommen nicht, um zu kontrollieren, wir kommen auch nicht, um Patienten zu behandeln. Wir kommen, um unsere Kompetenzen in der Hausarztmedizin weiterzugeben, damit die lokalen Ärztinnen und Ärzte von unseren Erfahrungen profitieren und eine bessere Medizin praktizieren können.
Es ist erschreckend, wie wenig vorhanden ist, an Wissen, Fertigkeiten, Ausrüstung und Infrastruktur. Es gibt kein fliessendes Wasser, keine Toiletten, keine saubere Liege. Es fehlt an Medikamenten, Verbandstoff, Instrumenten. Trotzdem, und gerade deswegen, bewundere ich Nazarmahmad und sein Team: Mit einfachsten Mitteln wird täglich versucht, das Elend der kranken Talbewohner zu lindern, mit Freude, Hingabe und grossem Engagement. Der Verdienst des Arztes reicht kaum zum überleben, und doch wird nicht geklagt.
Es ist eine grosse Genugtuung zu sehen, wie unsere Bemühungen auf fruchtbaren Boden fallen. Unser Mentoring wird von den Kollegen in Tadschikistan geschätzt, und unsere Hinweise werden so gut wie möglich umgesetzt. Nach drei Tagen weiss der Arzt, dass nicht jede Lumbago eine Pyelonephritis ist; er kann einen Rücken untersuchen. Nicht alle Bauchschmerzen brauchen Antibiotika, und nervöse Mütter haben vielleicht ganz normale Schilddrüsenwerte. Kinder, die weinen, müssen keinen erhöhten Hirndruck haben. Wie kann eine einfache Infiltration gemacht werden? Und macht es Sinn, Kleinkindern intraglutaeal Penicillin zu spritzen …?
Die Arbeit ist nicht einfach. Sprachliche Barrieren müssen überwunden, kulturelle und religiöse Regeln beachtet werden. Eine Frau darf zur Untersuchung nicht einfach berührt werden, vor allem nicht, wenn der Ehemann anwesend ist (manchmal sind ganze Sippen zugegen …). Frauen haben kaum Rechte, und wenn der Ehemann etwas verbietet (zum Beispiel das Tragen einer Brille), geht nichts. Die staatlichen Vorgaben für die Ärzte bezüglich der Behandlungsmöglichkeiten sind rigide, und es fehlt an den meisten uns geläufigen Medikamenten. Labor- und Röntgenuntersuchungen stehen kaum innerhalb nützlicher Frist zur Verfügung, viele Krankheiten sind uns auch nicht (mehr) geläufig.
Ein sehr grosses Problem ist auch die Armut. Patientinnen und Patienten können sich Untersuchungen, Medikamente und weitere Behandlungen nicht leisten. Zwar ist der Besuch beim Dorfarzt kostenlos, aber danach muss alles bezahlt werden. Eine Schenkelhalsfraktur bedeutet deshalb oft das Ende der Mobilität – die Operation ist zu teuer.
Wir verabschieden uns nach drei Tagen, an denen wir beide voneinander gelernt und profitiert haben. Es ist traurig, ja tragisch, dass aufgrund der Beschneidung der Entwicklungshilfe in der Schweiz und der Streichung der Gelder für dieses Projekt Nazarmahmad künftig alleine in seinem Tal gelassen ist. Mir bleibt die Genugtuung, dass unser Mentoring, auch wenn wir nicht mehr kommen können, eine nachhaltige Verbesserung bewirkt hat. Und ich hoffe, dass Nazarmahmad auch in diesem Winter die Lawinenabgänge auf seinen Hausbesuchen überlebt hat, und wir uns irgendwann wieder sehen werden – das Projekt «Hausärzte für Tadschikistan» ist für ihn und uns ein kleiner Hoffnungsschimmer.Hansueli Späth
Reformen der Aus-, Weiter- und Fortbildung
Zuerst wurde die Ausbildung an der Staatlichen Medizinischen Universität modernisiert: Ein neues Curriculum stellt die klinischen Fertigkeiten auf die gleiche Stufe wie die theoretische Ausbildung und gipfelt im sechsten und letzten Jahr in einem unserem Wahlstudienjahr nachgebildeten «Praktischen Jahr». Ein Pilotprojekt des MEP testet ein auf praktischer Arbeit basierendes Weiterbildungsprogramm für Hausätzte, dezentralisiert, in Polikliniken und «Family Medical Centers», das mindestens zwei Jahre dauert. Dies im Gegensatz zum bestehenden Programm, das schon nach einem einzigen Jahr – meist theoretischer – Weiterbildung den Facharzttitel vergibt. Zurzeit besteht die offizielle Fortbildung immer noch in monatelangen Kursen, alle fünf Jahre in zentralen Institutionen. Auch das möchte das MEP verändern helfen und in ein kontinuierliches Lernprogramm umwandeln. Seit über zehn Jahren unterstützt es Qualitätszirkel für Hausärzt/-innen und Praxis-Assistent/-innen («family doctors» und «family nurses», letztere sind auch als «community nurses» tätig). So richtig werden diese Zirkel aber nur funktionieren, wenn sie in ein Fortbildungssystem eingebaut sein werden, das auf in kürzeren Abständen erfolgenden Fortbildungsveranstaltungen und auf einem System mit «Credits» basiert. Auch da existiert ein Pilotprojekt unter der Ägide des Gesundheitsministeriums.
Leider ist aber die Qualität der Ausbildung noch immer ungenügend, aus vielen verschiedenen Gründen. Das Einkommen der Hausärzte ist klein, das Ansehen unter den spezialisierten Ärzt/-innen noch gering, es gibt noch kaum Vorbilder – die schon ausgebildeten Generalisten stammen noch aus älteren Zeiten, als die Spezialisierung einziges Ziel war. Daher haben die Verantwortlichen des SINO-Projekts schon vor zehn Jahren einen Ausweg gesucht und einen Schweizer Hausarzt gefunden, der mehrmals im Jahr für drei Wochen in Tadschikistan Ausbildner und Auszubildende «mentorisierte». Dabei stand nicht die Behandlung des einzelnen Patienten im Vordergrund, wichtig war das Beobachten des Könnens, des Verhaltens, des klinischen Zugangs zum Patienten durch die Ärzt/-innen. Die anschliessende Erteilung eines Feedbacks war das Zentrum seiner Aufgabe, das heisst die Verbesserung der klinischen Fertigkeiten und des klinischen «Reasonings». Diese Einätze des Schweizer Hausarztes waren sehr wichtig, aber eigentlich nur ein Tropfen auf den heissen Stein. 2012 startete das Programm mit einem erweiterten Mentoring: Jährlich wurden zwei bis vier Missionen à drei bis vier Hausärzt/-innen für drei Wochen eingesetzt. Ausgelesen wurden erfahrene Hausärzt/-innen, wenn möglich mit einem Ausweis als Lehrärzte. Sprachkenntnisse, Persisch oder Russisch, waren von Vorteil. Die Teilnehmenden mussten einen gewissen Enthusiasmus für das Lehren mitbringen, wurden doch nicht in erster Linie Patienten behandelt, sondern Kolleg/-innen bei der Ausübung ihres Berufes beobachtet und korrigiert. Auch wichtig war, dass sie ein gerütteltes Mass an Anpassungsfähigkeit an nicht ideale, nicht immer funktionierende Infrastrukturen und an andersartige Lebensweisen aufbringen konnten. Am meisten Eindruck aber machte den mentorierten tadschikischen Kolleg/-innen, dass es Generalisten gibt, die mit Stolz und grosser Freude Hausärzte sind. Solche Vorbilder gibt es (noch) nicht in ihrem Land.
Projekt geht dem Ende entgegen
Obwohl gezeigt werden konnte, dass dieses Mentoring die Berufsausübung der lokalen Kolleg/-innen verbessert, läuft das DEZA-Projekt in diesem Jahr aus. Wir sind aber überzeugt, dass dieses Mentoring noch für lange Zeit für eine qualitativ höherstehende Grundversorgung in Tadschikistan nötig sein wird. Sowohl Umschulung als auch das neue Weiterbildungsprogramm waren und sind zu kurz, die Fortbildung noch in einem embryonalen Stadium. Von Vertreter/-innen dieser Schweizer Mentoren wurde daher ein Verein gegründet, der unter dem Patronat von mfe Haus und Kinderärzte Schweiz steht und vom Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut in Basel unterstützt wird. Auch das DEZA ist bereit, Hilfe in organisatorischen Belangen zu gewähren.
Was wir jetzt brauchen ist in erster Linie finanzielle Unterstützung, daher startet der Verein «Hausärzte für Tadschikistan» ein Fundraising. Seine Mitglieder werden an verschiedenen Fortbildungsveranstaltungen präsent sein und Information und Einzahlungsscheine bereithalten. Angesprochen sind in erster Linie Hausärzt/-innen, aber auch Patient/-innen und andere an effektiver Entwicklungszusammenarbeit interessierte Personen. In Zukunft wird auch die Rekrutierung neuer Kolleg/-innen nötig werden.
Quelle: eurasischepresse
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