1721 stellte Peter I. im Zuge seiner Staatsreformen die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) nach dem Vorbild westeuropäischer protestantischer und anglosächsisch geprägter „Staatskirchen“ – mit König, Königin oder Zar als religiösem Oberhaupt – endgültig unter Staatsverwaltung. Die russische Patriarchatskirche wurde abgeschafft, der „Heilige Synod“ als Quasi-Ministerium eingerichtet. Die seit Konstantin I. traditionelle Trennung von staatlicher und kirchlicher Hierarchie in der orthodoxen Christenheit wurde in Russland 200 lange – und folgenschwere – Jahre aufgehoben.
Im Ergebnis führte diese kirchliche Enthauptung Russlands in die Katastrophe von 1917. Selbst die Wiederherstellung des Patriarchats im Revolutionsjahr durch das ROK-Konzil von 1917 und die Wahl des Heiligen Märtyrerpatriarchen Tichon konnte sie nicht abwenden! Erst hunderttausende Märtyreropfer später und nach Millionen von Toten wurde die ROK nach der Schlacht an der Wolga 1943 zum geistigen Nukleus des vaterländischen Widerstands bis hin zum Osterwunder am 8. Mai 1945.
Die Trennung von Kirche und Staat ist also ebenso wenig wie die Religionsfreiheit eine Erfindung der deutschen Nachkriegszeit, geschweige denn der EU. In ihnen spiegeln sich sowohl gesamtkirchliche wie auch byzantinische und römische Rechtstraditionen wider, wie auch die schmerzhaften und blutigen Erfahrungen des 30-jährigen Krieges und anderer europäischer Religionsmassaker.
Für Bayern war bis zum Ende des 20. Jahrhunderts sowohl der bäuerliche wie auch der von Handwerk, Adel und Bürgertum präferierte Katholizismus römischer Prägung – trotz einer nicht unerheblichen Reformations-Geschichte – Teil der Identität und Tradition. Bis in die Moderne hinein. Für den einen waren die seit Jahrhunderten allseits aufgestellten Weg- und Bergkreuzl Teil uriger und unverstellter Folklore, für den anderen Anlass zu Einkehr, Gebet und Besinnung. Die in Rathäusern, Universitäten, Gaststätten und Schulräumen überall präsenten einfachen Wandkreuze oder reich geschmückten Pieta-Darstellungen gehörten zu Bayern wie Lederhosen, Dirndl und Weißbier. Und das galt auch für urbane Zentren oder Universitätsstädte.
Dass antikatholische Aufklärung und Neuheidentum auch um Bayern keinen Bogen machten und nach dem 1. Weltkrieg mit besonderer Wucht anwuchsen, bewiesen dort wie allerorten populäre Eugeniker, Rassenideologen, Antisemiten und Nazis, die im Zentrum der „Bewegung“ wohlgelitten bis 1933 zu fetter Reife (siehe das erste Nazi-KZ in Dachau) blutig gedeihen konnten.
Katholischer, protestantischer und orthodoxer Widerstand gegen die neuen Anti-Christen kulminierte im Bündnis der „Weißen Rose“, dessen Mitinitiator Alexander Schmorell 2012 von der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland als Märtyrer gepriesen wurde.
1995 kam es im sogenannten Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Annahme der Klage einer Handvoll Anhänger der anthroposophischen Weltanschauung, die sich durch die in Klassenzimmern aufgehängten Kreuze in ihrer Religionsfreiheit eingeschränkt fühlten. Wichtigster Bestandteil des folgenden Beschlusses war der Verweis des Gerichts auf die seit der Weimarer Verfassung geltende Neutralitätspflicht des Staates in Form von Selbstbeschränkung, Pluralität und Toleranz etwa gegenüber der Religionsausübung von Beamten (siehe das Kopftuchurteil).
Nicht nur die aktiven Christen, sondern der Großteil der bayerischen Bevölkerung sahen sich durch diese Rechtsstreitigkeiten gleichsam erpresst und durch die Begleitung der auf- und abschwellenden Bocksgesänge vieler Medien in ihrer seit Generationen bewahrten Kultur und Heimatliebe angegriffen.
Die in Bayern seit den Weltkriegen, der folgenden Gastarbeiter-Immigration sowie dem Untergang der Sowjetunion zu hunderttausenden beheimateten orthodoxen Christen aus Russland, Griechenland, Serbien und anderen Ländern Osteuropas erlebten diese (zugegeben praktisch kaum wahrnehmbare) „Kreuzabnahme“ als Säkularisierungswelle und geistliche Selbstkastration nach kommunistischem, türkischem oder auch postliberalem Muster.
In den Gemeinden und Klöstern der Orthodoxie in ganz Deutschland der 90er Jahre reichten die Reaktionen von Enttäuschung und Ärger über völliges Unverständnis für den Bundesgerichtshofs-Beschluss bis hin zu Solidarität und Mitgefühl mit den empörten Bayern.
Im Leben und Denken russischer, ja aller orthodoxer Christen ist das Kreuz tatsächlich weit mehr als ein „religiöses“ Symbol. Es ist Teil der christlichen und europäischen „Kultur“ seit Konstantin I. im Sinne von „Sprache“ als „lebensstiftender“ Kraft. Das Kreuz ist hier fundamentale, lebensspendende und lebens-repräsentierende „nichtgenetische Information“ (Juri Lotman). Es wurde zum Symbol im Sinne des alttestamentlichen Wahrheits-Abbildes und Realitätszugangs zum Himmlischen Königtum.
Das Kreuz war zuerst historisch konkretes und wahrlich kein abstraktes Marterinstrument zur Ermordung Christi aus dem Sanktions-Arsenal römischer Weltherrschaft. Und es wurde zum transzendentalen „Zeichen“ kirchlichen Lebens des Einzelnen von der Taufe bis zur Einsegnung.
Eine zarte Spiegelung dieser von den Evangelien über den Gebetsalltag bis hin zur orthodoxen Theologie und den Kanons tradierten Lebensrealität setzte in der modernen Kunst Europas nicht zufällig genau in jenen Jahren – künstlerisch-prophetisch – der Münchener Künstler Haralampi Oroschakoff mit seinem berühmten „Doppelkreuz“ und der „Dandalo“-Ausstellung über die Gier der Kreuzritter 1989 im Kasseler Fridericianum – gleichsam eine Überwindung des modernen Denkens, des Neu-Heidentums und ein Bekenntnis zu byzantinischer und russischer Kreuz-„Kultur“. Fast zeitgleich erscheinen bei Matthes & Seitz erstmals in deutscher Übersetzung (in München übersetzt und herausgegeben!) die epochalen Aufsätze von Pavel Florenskij „Die umgekehrte Perspektive“ und „Die Ikonostase“. Jedoch: der Diskurs wurde damals nicht angenommen.
Die Aussagen des obersten deutschen Richterbeschlusses von 1995 decken sich durchaus mit der christlichen orthodoxen Theologie und der russischen philosophischen Tradition.
Wahr ist: das Kreuz ist mehr als ein allgemein deutsches oder bayerisches oder russisches „kulturelles“ Symbol – es ist universal in allen Völkern und Zeiten.
Wahr ist auch: das Kreuz ist kein überreligiöses Symbol für Humanität und Barmherzigkeit – es ist bis vor 2000 Jahren ein (Massen-) Folter- und Hinrichtungsinstrument. Und es wird universal im Leben Christi durch Leiden, Tod und Auferstehung.
Denn das Kreuz steht als symbolon jenseits aller Völker. Es reicht über Europa, über alle Kulturen und Religionen und auch über alle Epochen und Zeiten hinaus. Und es ist selbstverständlich „christlich“, insofern – und nur dann, wenn – es „auf sich genommen wird“ (siehe Markus 8, 34-38) und mit ihm Christi „Nachfolge“ erfüllt wird: Glauben, Liebe, Hoffnung, Frieden, Nächstenliebe!
Aber die bayrischen Kreuze sind weder 1995 noch 2018 verschwunden. Bayerns Politik und Verwaltung formulierte die Schulordnung entsprechend um. Dabei berief es sich, wie auch heute wieder, auf „die geschichtliche und kulturelle Prägung Bayerns“ und ließ „schonenden Ausgleich“ auf Wunsch und im Einzelfall gelten. Die Ausdehnung dieser strategischen und juristisch abgesicherten Verordnungspraxis der Bayerischen Landesregierung, „das Kreuz als sichtbares Bekenntnis zu den Grundwerten der Rechts- und Gesellschaftsordnung in allen Behörden Bayerns anzubringen“, ist daher nicht wirklich neu. Auch steht sie mitnichten im Widerspruch zum bayerischen Lebensalltag.
Selbst wenn die CSU unter Markus Söder diesen Beschluss ganz sicher nicht nur aus Glaubensüberzeugung und bayerischem Brauchtum getroffen hat: Was ist schlecht daran? Wir alle wissen: es herrscht Wahlkampf in Bayern („Franz Josef Strauß würde AfD wählen“). Daher ist diese Entscheidung für die meisten Bayern, für alle orthodoxen Christen in Gemeinden wie Klöstern sowie für die meisten Russen im Freistaat sowohl selbstverständlich wie begründbar.
Zum Fremdschämen sind hingegen Kardinal Marx’ peinliche Einlassungen, der in guter neoliberaler Manier durch die Anbringung der Kreuze in Bayern „Spaltung, Unruhe, Gegeneinander bis in die Familien und Pfarreien hinein“ identifizierte. Jener Kardinal Marx, der 2016 in Jerusalem – zusammen mit seinem EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm – sein eigenes Bischofskreuz aus verquaster political correctness abnahm.
Da lachten wohl selbst die Jerusalemer Rabbiner und Imame im Angesicht von soviel diplomatischer Ahnungslosigkeit und (un-)christlicher Selbstverleugnung.
Die opportunistischen Unkenrufer diverser politischer Couleur und Feuilletons („Haut den Söder!“), die den Untergang von Rechtsstaat, Religionsfreiheit und staatlicher Neutralität kommen sehen („ganz, ganz schlechte CSU“), seien an jene Zeiten erinnert, als Glocken und Kreuze zu zehntausenden für „Führer, Volk und Vaterland“ zur Einschmelzung verdammt wurden. Als Kruzifixe in Amtsstuben und Wohnzimmern durch Porträts des größten Adolfs aller Zeiten abgelöst wurden. Zeitlich näher noch mussten Russen bis 1991 und Deutsche bis 1989 die antichristliche (wie auch antijüdische und antiislamische) Bildinflation von Lenin, Josef, Karl, Friedrich, Walter und Erich erleben – nicht nur in Klassenzimmern und Amtsstuben. Viele von uns erinnern sich noch an die Gruselästhetik porträtbeflaggter Straßenzüge und plakatierter Häuserwände.
Weder für Russen oder Bayern noch für die allermeisten Deutschen ist das Kreuz eine Waffe im Kulturkampf. Für die einen ist es liebgewordene Tradition und Symbol der Heimat. Für andere ist es Mahnung und Aufrichtung zu Gebet und Nächstenliebe. Möge es bewahrt werden.
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