Als Julian Nagelsmann unterwegs war zum zweiten Europacupspiel der Hoffenheimer Klubgeschichte, staunte er über den Istanbuler Verkehr. Im Vergleich dazu käme man in Deutschland in derselben Zeit 50, 60 Kilometer weiter, sagte er. Es ging ihm nicht schnell genug voran.
Die Trainerkarriere von Nagelsmann, 30, verlief im Eiltempo. Als 25-Jähriger schnupperte er als Hoffenheimer Co-Trainer Bundesligaluft, mit 26 Jahren war er der jüngste U19-Meistertrainer der Geschichte, mit 28 Jahren der jüngste Chefcoach der Bundesligahistorie. Er führte die TSG erst zum Klassenerhalt, dann, in seiner ersten kompletten Saison, auf Anhieb auf Platz vier. Rückschläge? Gab es nicht. Bis zu dieser Spielzeit.
Die Qualifikationsrunde der Champions League im vergangenen August. An der Anfield Road pflügt der FC Liverpool durch die Hoffenheimer Defensive, wie er es in den nachfolgenden Monaten mit den Abwehrreihen europäischer Spitzenteams machen wird. Nach 21 Minuten steht es 3:0, am Ende gewinnen die Reds 4:2, schon das Hinspiel in Sinsheim hatten sie für sich entschieden (2:1).
"Nicht gespielt, wie wir sollten"
"Wir haben uns in 20 Minuten ein Jahr Arbeit kaputt gemacht", sagte Stürmer Sandro Wagner danach, was harsch klang und selbstkritisch. Sein Trainer kritisierte auch, nur nicht sich, sondern seine Spieler. "In der Verfassung von heute hätten wir auch beim FC Zuzenhausen verloren", sagte er. Hatten sie aber nicht, sondern gegen jenen Klub, der in der Königsklasse später dank der mit Abstand besten Offensive ins Finale einziehen sollte. Nagelsmann hätte auch loben können, dass die unerfahrenen Hoffenheimer zwei tolle Spiele geboten hatten. Stattdessen sagte er: "Wir haben nicht gespielt, wie wir sollten".
Es entstand der Eindruck, er selbst habe seine Mannschaft gut eingestellt, diese sich aber nicht an den Plan gehalten. Vielleicht ging dem Tempolerner Nagelsmann die Entwicklung seiner Spieler nicht schnell genug. Was die Verteidiger über die Aussagen dachten, die gerade von Mo Salah überrannt worden waren, ist nicht überliefert.
Man kann das als ersten großen Fauxpas in der Trainerkarriere von Nagelsmann betrachten. Bis zum zweiten dauerte es einen weiteren Monat. Da kokettierte er mit einem möglichen Bayern-Engagement. "Ich bin sehr, sehr glücklich, aber der FC Bayern würde mich vielleicht noch ein Stück glücklicher machen", sagte er und wunderte sich hinterher, welche Wellen das Zitat schlug.
Sportlich verlief die Saison für die TSG durchwachsen. Auf Siege folgten oft mehrere Partien am Stück ohne Erfolg, nur in Ausnahmefällen blieb die Mannschaft ohne Gegentor. Ins Jahr 2018 startete Hoffenheim mit vier sieglosen Spielen, Tiefpunkt: neun gegnerische Treffer binnen einer Woche gegen Leverkusen (1:4) und Bayern (2:5). "Entzaubert", hieß es auf SPIEGEL ONLINE nach der Pleite in München über Nagelsmann.
Wirklich überraschend waren die Rückschläge dabei gar nicht. Es ist eine Sache, erfolgreich zu sein, aber eine andere, den Erfolg zu bestätigen. Die Belastung der zusätzlichen Europacupspiele war neu, zudem musste der Klub mit Niklas Süle und Sebastian Rudy im Sommer sowie Wagner im Winter insgesamt drei Schlüsselspieler ersetzen.
Die eigentliche Überraschung ist daher, dass die TSG vor dem Saisonfinale auf Platz vier liegt. Am Samstag trifft die Mannschaft zu Hause auf Borussia Dortmund(15.30 Uhr, Liveticker SPIEGEL ONLINE). Gewinnt sie, tritt sie kommende Spielzeit sicher in der Champions League an. Bei einer Niederlage dürfte noch immer ein Europa-League-Platz herausspringen. Auch das wäre ein Erfolg.
Es ist nicht ganz klar, warum, aber seit der Niederlage beim FC Bayern läuft es für die TSG. Spieler wie Mark Uth, Serge Gnabry, Nico Schulz und Andrej Kramaricfanden zu ihrer Top-Form; die Mannschaft verteidigt besser, sie hat den Gegentorschnitt um 0,5 Treffer pro Partie gesenkt. Womöglich liegt die Wandlung auch daran, dass Nagelsmann selbst weniger stark im medialen Fokus steht. Daran, dass er selbst sich zurückgenommen hat.
Noch ein Jahr Hoffenheim
Es gibt aktuell nur wenige Trainer, über die so viel geschrieben wird wie über Nagelsmann. Für manche ist er Heiland, für andere Gehypter. Seine taktischen Fähigkeiten machen ihn zum potenziellen Top-Trainer. Dank einer Ausstiegsklausel in seinem Vertrag kann er Hoffenheim im Sommer 2019 verlassen, und die Liste der Klubs, denen Interesse an Nagelsmann nachgesagt wird, ist lang. Für sportliche Höchstleistung der TSG war es dabei wohl kaum hilfreich, dass der Coach in München und in Dortmund gehandelt wurde, ohne dem entschieden entgegenzuwirken.
Der Deutschen Presse-Agentur bestätigte er, sich mit Anfragen anderer Vereine beschäftigt zu haben, es dürfte dabei insbesondere um den BVB gehen. Und Nagelsmann verkündete, dass er gewiss noch ein Jahr in Hoffenheim verbringen werde. Das war am 5. Februar, eine Woche nach dem Bayern-Spiel. Seither hat die Mannschaft zwei Punkte pro Begegnung geholt. Hochgerechnet genügte das zur Vizemeisterschaft.
Es scheint, als lerne Nagelsmann in diesen Monaten viel über den Fußball, nur eben abseits von Matchplan und Belastungssteuerung. Vielleicht wird er in ferner Zukunft über diese Saison sagen, sie sei eine der wichtigsten seiner Karriere geweseb. Ganz gleich, wie das Spiel am Samstag endet.
spiegel
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