"Ja, guten Morgen", sagt die Kanzlerin, als sie gegen fünf Uhr morgens auf die Kameras zugeht. "Wir haben, wie sie ja an der Uhrzeit merken können, eine sehr intensive Debatte gehabt." Doch jetzt, so Angela Merkel, stehe die Einigung. Nach zwölf Stunden Beratungen hatten die Staats- und Regierungschefs soeben die Schlussfolgerungen des Rates zum umstrittenen Thema Migration beschlossen. Um 4.34 Uhr kam der erlösende Tweet von Ratspräsident Donald Tusk: Weißer Rauch in Brüssel, endlich.
Auch der Kanzlerin ist die Erleichterung anzusehen. Es sei gut, dass es "bei dem vielleicht herausfordernsten Thema für die Europäische Union" nun einen gemeinsamen Text gebe, sagt Merkel. Dabei hatte es zeitweise so ausgesehen, als ob die gemeinsame Abschlusserklärung tatsächlich platzen könnte. Merkel hätte das in eine missliche Lage gebracht: Wie hätte sie in der Heimat, vor allem gegenüber der CSU, dann weiter für eine "europäische Lösung" im Flüchtlingsstreit werben sollen, wenn in Brüssel mal wieder nichts vorangegangen wäre?
Nun aber verkündet sie den zäh verhandelten Erfolg. Im Zentrum der Einigung stehen zwei unterschiedliche Arten von Flüchtlingslagern, die die EU schaffen will:
Zunächst soll ein Konzept für sogenannte Ausschiffungsplattformen erarbeitet werden. Hierhin sollen Flüchtlinge zurückgebracht werden, die im Mittelmeer aufgegriffen oder aus Seenot gerettet werden. Die EU will so den Anreiz für die gefährliche Überfahrt senken und das Geschäftsmodell der Schlepper zerstören, eine alte Forderung Italiens.
Neu hinzugekommen sind gestern Nacht nun sogenannte Kontrollierte Zentren innerhalb der EU, die von den Mitgliedsländern "auf freiwilliger Basis" aufgebaut werden. Dort soll entschieden werden, wer Anspruch auf Schutz hat. Diese sollen dann - erneut auf freiwilliger Basis - innerhalb der EU verteilt werden.
Wie genau sich die beiden Zentren unterscheiden, war in der Nacht zunächst nicht zu klären. Offenbar sollen die Zentren in Afrika mehr der Rückführung in die Herkunftsländer dienen - die auf europäischem Boden eher eine Ausgangsstation für eine weitere Verteilung von Schutzbedürftigen innerhalb der EU sein. Klar ist zudem, dass in den EU-Zentren europäisches Recht, also auch Asylrecht, ohne Abstriche gilt, in Nordafrika soll offenbar das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR für erträgliche Umstände sorgen.
Punkt elf: Sekundärmigration
Deutschland unterstützt die Ideen, Urheber aber waren andere. Den Vorschlag mit den Ausschiffungsplattformen in Afrika hatte Ratspräsident Tusk erarbeitet, die Zentren innerhalb der EU gehen auf eine Initiative vor allem des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zurück.
Das eigentliche Anliegen der Kanzlerin hat die Gipfelnacht ebenfalls überstanden, die Lektüre für Horst Seehofer findet sich nunmehr in Punkt elf der Gipfelerklärung. Es geht um die sogenannte Sekundärmigration innerhalb der EU. "Wir haben festgestellt, dass auch hier für Ordnung und Steuerung gesorgt werden muss" sagt Merkel, ganz im Duktus ihres Bundesinnenministers. "Kein Asylbewerber hat das Recht, das Land innerhalb der EU auszusuchen, in dem es ein Asylverfahren gibt."
Zu den Rückführungsabkommen, dem zweiten Schwerpunkt von Merkels Bemühungen, um die CSU milde zu stimmen, sagt Merkel in der Nacht nichts. Bekannt ist nur, dass Spanien, Griechenland, Frankreich und sogar Ungarn sich vorstellen können, solche Verträge zu unterzeichnen; ob auch Italien mitmacht, scheint derzeit offen.
Dabei hatte es Merkel im Umgang mit Gipfelneuling Giuseppe Conte nicht an Charme fehlen lassen. Ihr Gipfeltag begann am Donnerstag mit einem Gespräch mit Conte unter vier Augen. Der war darauf offensichtlich nicht vorbereitet. Ob man sich denn allein treffe, wollte er wissen, als er im Besprechungsraum auf einmal der deutschen Kanzlerin gegenüberstand. Ja ja, flötete die Kanzlerin, das habe schon seine Richtigkeit. "Dann brauche ich erst mal meine Tasche", sagte Conte und rauschte aus dem Raum. Bewaffnet mit seinen Dokumenten sah sich Anwalt Conte dann offenbar ausreichend präpariert, um der deutschen Kanzlerin die Stirn zu bieten.
Die Ausgangslage zwischen den beiden hätte unterschiedlicher nicht sein können. Während Merkel zwingend eine Einigung brauchte, war Conte gar nicht so scharf drauf. Für die neue Regierung in Rom, wütend ob der fehlenden Solidarität der EU in der Flüchtlingsfrage, wäre es auch gut denkbar gewesen, die Sache einfach platzen zu lassen.
Macron bringt offenbar den Durchbruch
Gebracht hatte das etwa 40 Minuten lange Gespräch dann auch erst mal nichts. Denn kurz darauf kündigte Italien an, die vorbereitete Erklärung etwa zur Handelspolitik so lange zu boykottieren, bis auch die Einigung zur Migration stehe. Die Populistenregierung in Rom mag neu auf dem Brüsseler Parkett sein, das alte Verhandlungsmotto langer EU-Nächte scheinen sie aber schon verinnerlicht zu haben: "Nichts ist vereinbart, bis nicht alles vereinbart ist".
Den Durchbruch brachten offenbar Gespräche, die Frankreichs Präsident Macron zunächst mit Mittelmeeranrainerstaaten führte. Jedenfalls sollen Tweets, die Macron vertieft im Gespräch mit Conte zeigen, diesen Eindruck nahelegen. Macrons Idee von sogenannten geschlossenen Zentren innerhalb der EU setzte sich dann durch, als sich die Staats- und Regierungschefs gegen Mitternacht in kleineren Gruppen zusammensetzen.
Nach ein Uhr gab es dann erste Signale, dass ein Kompromiss gelingen könnte, es traf sich erneut die große Gruppe. Die Verteilung der Flüchtlinge aus diesen Zentren sollte auf komplett freiwilliger Basis erfolgen. Das machte es auch osteuropäischen Ländern wie Ungarn möglich, zuzustimmen. Sie lehnen eine Aufnahme von Flüchtlingen ab. Italien dagegen zögerte offenbar lange: Bei so viel Freiwilligkeit, kann das Land da wirklich mit Entlastung rechnen?
Italien hatte vor dem Gipfel gefordert, das Dublin-System "zu überkommen". Es sieht vor, dass der EU-Staat, in dem ein Migrant zum ersten Mal die Gemeinschaft betritt, für Unterbringung und Asylverfahren zuständig ist. Das belastet Länder wie Griechenland oder Italien in besonderem Maße.
Erfolgsmeldungen im Stakkato
Bevor sie ins "Hotel Amigo" am Grand Place eilt, setzt die Kanzlerin im Stakkatorhythmus noch weitere Erfolgsmeldungen ab. Die EU-Grenzschutztruppe soll deutlich schneller als bislang geplant aufgestockt werden, schon bis 2020. Die Türkei darf sich nun wirklich auf die bereits mehrfach zugesagte zweite Drei-Milliarden-Tranche im Rahmen des Flüchtlingsdeals freuen. Und der sogenannte Trust-Fonds für Afrika bekommt auch mehr Geld.
Sie wolle, so sagt Merkel noch, "in Partnerschaft mit Afrika arbeiten, nur so werden wir wirklich Win-win-Situationen erzeugen".
Ob die Einigung auch für die Kanzlerin eine Win-win-Situation im Streit mit Horst Seehofer und der CSU in der Heimat ist, muss sich erst noch zeigen. Der Innenminister droht damit, Asylbewerber an den deutschen Grenzen zurückzuweisen, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind.
Zwar müsste die CSU nun schon sehr hartleibig sein, um gegenüber der Kanzlerin nach einem zwölfstündigen Verhandlungsmarathon den Daumen zu senken. Auf der anderen Seite muss sich erst noch in der Praxis erweisen, was die Idee der Lager innerhalb und außerhalb der EU wirklich wert ist. Beschlossen haben die Europäer in Sachen Migration auch in der Vergangenheit schon viel. Das Problem war immer nur, dass danach wenig geschah, oder einzelne Staaten wie Ungarn sich nicht an die Beschlüsse gehalten haben.
Eine kleine Stinkbombe kann sich die Kanzlerin dann doch nicht verkneifen. Es gäbe jetzt eine große Zahl von Aufgaben für die österreichische Ratspräsidentschaft sagt Merkel. Also für Kanzler Sebastian Kurz, der nicht immer zu den Freunden ihrer Flüchtlingspolitik gezählt hat. "Ich bin optimistisch, dass wir jetzt weiterarbeiten können"; sagt Merkel. Sie macht auch klar, was sie damit meint - die Reform des umstrittenen Dublin-Systems inklusive der Verteilung der Flüchtlinge in der EU.
spiegel
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