Wie Russland eine WM der Widersprüche feiert

  15 Juli 2018    Gelesen: 922
Wie Russland eine WM der Widersprüche feiert

Fifa-Präsident Gianni Infantino sendet einen absurden Gruß, in einem aber hat er Recht: Die Besucher der Fußball-Weltmeisterschaft kehren mit einem positiven Russland-Bild heim. Doch niemand sollte verkennen, dass mehrere Wahrheiten gleichzeitig existieren.

Der Auftritt des Präsidenten des Fußballweltverbandes Fifa war ein letzter absurder Gruß. Bei der Abschlusspressekonferenz am Freitag im Moskauer Luschniki-Stadion trug Gianni Infantino, der im Jahr anderthalb Millionen Schweizer Franken Gehalt bekommt, eine dunkelorangene Kapuzenjacke. An ihr sind sonst bei dieser Weltmeisterschaft die vielen freundlich lächelnden, freiwilligen Helferinnen und Helfer zu erkennen, die in den vergangenen fünf Wochen das Gesicht des Turniers in Russland waren. Sie haben in den Stadien, an den Flughäfen, Bahnhöfen und in den Städten viel dazu beigetragen, dass die Besucher aus dem Ausland eine schöne Zeit hatten. Sie sind die einzigen, die kein Geld dafür bekommen haben. Nur die Kapuzenjacken, die dürfen sie behalten.

Auch Infantino lächelte, er war mit sich und der Welt zufrieden: "Es ist die beste Weltmeisterschaft, die jemals stattgefunden hat." Das sagen Fifa-Präsidenten stets. Aber er lag sicherlich richtig, wenn er sagte, die Gäste hätten ein "wunderbares, gastfreundliches Land entdeckt" und "eine Menge vorgefertigter Meinungen verändert". Dafür möchte er "den Russen, dem russischen Volk, danken". Und natürlich dem Präsidenten, Wladimir Putin. "Spassibo Rossija!" Die Sache mit den Volunteers ist beileibe nicht der einzige und längst nicht der gravierendste Widerspruch, den diese WM zu bieten hat. Die Sache ist im Grunde einfach und kompliziert zugleich. Es ist in dieser Welt möglich, dass es mehrere Wahrheiten nebeneinander und gleichzeitig gibt. Auch wenn es bisweilen schwer auszuhalten ist.

Sie lächelt nur und zuckt mit den Schultern
Natascha zum Beispiel sagt, dass sie ihren Job gerne macht. Sie steht an diesem Tag vor dem Finale, in dem sich am Sonntag Frankreich und Kroatien gegenüberstehen, an ihrem Stand am Bolotnaja-Platz zwischen dem Kreml und dem alten Kaufmannsviertel Samoskworetschje im Zentrum Moskaus. Sie trägt die dunkelorangene Kapuzenjacke und sagt auf Englisch, weil der Reporter kein Russisch versteht und spricht: "Wir sind dabei. Das ist doch schön." Auf die Frage, ob sie nicht findet, dass sie und die anderen Freiwilligen nicht wenigsten eine kleine Anerkennung verdient hätten, antwortet sie nicht. Sie lächelt nur und zuckt mit den Schultern. Dann erklärt sie den Weg entlang der Moskwa zur Christ-Erlöser-Kathedrale. Darüber, dass sich auf dem Bolotnaja-Platz am 6. Mai 2012 nach der Präsidentschaftswahl und der Parlamentswahl 50.000 Menschen trafen, um gegen Wahlfälschungen zu protestieren, hat sie nicht gesprochen. Es hat sie auch keiner gefragt.

Und die Frage an Roman morgens um fünf vor einem Plattenbau hinter dem Stadion in Nischni Nowgorod war auch nicht, ob er Putin gewählt habe. Sondern ob er helfen kann, ein Taxi zum Flughafen zu besorgen. Es war die Nacht, nachdem die russische Mannschaft in Sotschi im Elfmeterschießen gegen Kroatien ausgeschieden war. Roman hatte sich das Viertelfinale mit Freunden im Fernsehen angesehen. Später hat er sich per Whatsapp entschuldigt, er sei ein wenig angeschlagen gewesen, sehr viel Wodka. Er hatte jedoch nicht lange gezögert, sein Taxi geteilt, sich zu Hause absetzen lassen und dem Fahrer eingeschärft, dem Deutschen am Flughafen bloß nicht mehr als 400 Rubel abzuknöpfen. "Wenn er mehr will, dann ruf' mich an! Ich regele das."

Jeder, der in diesen Wochen in Russland war, kann solche Geschichten erzählen. Von hilfsbereiten Gastgebern in Moskau, die sich um die Registrierung des Gastes bei den Behörden kümmern, ihm bis spät in die Nacht gebratenen Fisch warmhalten und nach dem Abschiedsessen noch schnell am nächsten Kiosk eine Flasche Krimsekt kaufen, um anzustoßen. Und die versichern, dass die Hauptstadt nicht Russland sei, sondern ein Land in diesem Riesenland, eine Welt für sich. Von der Bäckersfrau in Kasan, die dem Kunden in unendlicher Geduld erklärt, was genau sich in welcher Blätterteigtasche befindet, obwohl der kein Wort versteht. Von Sergej, der sein Land kennt und mag, der aber auch weiß, wie andere Länder auf dieses Russland schauen. Der Putin nicht verteidigen will, sein Land aber schon. Der auf den 850 Kilometern im Nachtzug von Kasan nach Moskau sagt: Es sei sehr komplex, es gibt verschiedene Perspektiven. Vom Familienvater am Schwarzmeerstrand in Sotschi, der ungefragt versichert, die deutsche Mannschaft werde es ganz bestimmt auch bei diesem Turnier weit bringen. Vom jungen Mann vor der Eremitage in Sankt Petersburg, der aus dem Stand und auf Deutsch einen kurzen Vortrag über eines der bedeutendsten Kunstmuseen der Welt hält. Und sie alle fragen, ob es einem in Russland gefallen habe. Ja, hat es. Sehr sogar.

Putin lässt die Bilder für sich sprechen
Aber was bleibt als Erkenntnis? Dass auch die Russen ihre Kinder lieben? Dass es in Russland tolle Städte, nette Menschen und schöne Restaurants gibt? Dass dort im Juni und Juli die Sonne scheint? Und dass dieser Sommer ein ganz besonderer war, zumindest in den Gastgeberstädten dieser WM? Ja genau, dass ist die Erkenntnis, in all ihrer Banalität. Es schadet nie, sich selbst ein Bild zu machen.

Das ist eine Wahrheit. Die andere ist, dass es abseits der "besten WM aller Zeiten", wie Infantino sie nennt, die autokratische russische Regierung gibt, die völkerrechtswidrig die Krim annektiert hat, Krieg in der Ukraine und in Syrien führt, die Wahlen beeinflusst, Menschenrechte missachtet, die Opposition unterdrückt, und während des Turniers eine Reform der Renten angekündigt hat. Das Eintrittsalter soll angehoben werden, bei Frauen von 55 auf 63 Jahre, bei Männern von 60 auf 65. Russen werden im Schnitt 67,5 Jahre alt. Eine weitere Wahrheit ist, dass Präsident Putin im Grunde genau das erreicht hat, was er erreichen wollte: Er hat sich rar gemacht, saß nur beim 5:0 des Gastgebers gegen Saudi-Arabien im Eröffnungsspiel auf der Tribüne des Moskauer Luschniki-Stadions. Ansonsten hat er die Bilder des russischen Sommermärchens für sich sprechen lassen. Gleichzeitig sendete er damit das Signal: Seht her, ich habe meinem Volk dieses Fest geschenkt und der Welt gezeigt, wie schön es hier ist. Nun freut euch mal schön, ich muss arbeiten.

Wie das alles einzuordnen, zu gewichten und auszuhalten ist, die schönen Tage in Russland auf der einen Seite, die politische Lage auf der anderen - das muss jeder für sich selbst entscheiden. Wenn die WM vorbei ist, werden die Widersprüche bleiben.

Quelle: n-tv.de


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