Impfung: Die zweite Meinung

  29 Dezember 2015    Gelesen: 620
Impfung: Die zweite Meinung
In der Medizin sind die Dinge selten so eindeutig, wie sie scheinen. Alexander Kekulé beleuchtet vermeintlich sichere Erkenntnisse aus neuer Perspektive. Diesmal: Wie sinnvoll ist die Grippeimpfung?
Das Ritual gehört zur Jahreszeit wie Schlussverkauf und Weihnachtsmärkte: Wenn es Winter wird, werfen Gesundheitsämter und Pharmafirmen die Werbetrommel für die Grippeimpfung an. Das Robert-Koch-Institut (RKI) empfiehlt sie für Menschen ab 60 Jahren, chronisch Kranke und Schwangere, weil diese Risikogruppen durch eine Infektion besonders gefährdet sind. Die Botschaft der Gesundheitswächter klingt alternativlos: In Deutschland sterben jährlich bis zu 25.000 Menschen an Grippe, und der beste Schutz dagegen ist die Impfung.

Doch neuerdings bekommt das RKI, neben dem üblichen Störfeuer der fundamentalen Impfgegner, massive Breitseiten aus ungewohnter Richtung. Die angesehene Stiftung Warentest lässt seit 2012 die Impfempfehlungen durch unabhängige Experten überprüfen – mit deutlich abweichenden Ergebnissen. Heißester Streitfall ist die Grippeimpfung: Die Stiftung Warentest lehnt die generelle Impfung der über 60-Jährigen ab, weil sie im höheren Alter nicht ausreichend wirksam sei. Andererseits plädieren die Warentester, im Gegensatz zum RKI, für eine allgemeine Impfung gesunder Kinder.

Tatsächlich belegen aktuelle Studien der US-Gesundheitsbehörde CDC, dass die Impfung gerade bei älteren Menschen, die am stärksten durch die Grippe gefährdet sind, schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle nicht mehr verhindern kann. Grund dafür ist ein besonders aggressiver Virustyp, der sich seit einigen Jahren verbreitet: das Influenza-A-Virus H3N2. In der vergangenen Grippesaison war H3N2 in Deutschland für etwa 60 Prozent der Infektionen verantwortlich – mit der Folge, dass schwere Verläufe und Komplikationen ungewöhnlich häufig auftraten.

Das veraltete Verfahren, bei dem Grippeimpfstoffe mithilfe von Hühnereiern hergestellt werden, stößt an seine Grenzen. Weil die Produktion sehr lange dauert, muss die Weltgesundheitsorganisation bereits sechs Monate vor jeder Grippesaison entscheiden, gegen welche Virusvarianten der Impfstoff schützen soll. In dieser Zeit können sich die zirkulierenden H3N2-Viren aber so stark verändern, dass der festgelegte Impfstoff nicht mehr dazu passt. Vergangenes Jahr führte eine solche "Antigendrift" dazu, dass die Impfung gegen H3N2 unwirksam war.

Daneben hat H3N2 noch einen weiteren Trick auf Lager, mit dem es das altmodische Herstellungsverfahren überlistet: Es passt sich während der Impfstoffproduktion in den Hühnereiern durch genetische Veränderungen an die neue Umgebung an. Auch deshalb stimmen die in Eiern gezüchteten Impfviren nicht mit den zirkulierenden Wildviren überein.

Ob der Impfstoff trotzdem wirkt, hängt vor allem vom Alter der Patienten ab: Kinder produzieren eine breite Palette unterschiedlicher Antikörper, die auch leicht veränderte Viren abfangen können. Durch diese Schrotschuss-Taktik entwickeln bis zu 50 Prozent der Kinder nach der Impfung eine zuverlässige Immunität gegen H3N2. Dagegen liegt die Effektivität der Impfung bei über 65-Jährigen, deren Immunsystem nur noch wenige Antikörper-Varianten hervorbringt, bei maximal zehn Prozent. Der beste Schutz für alte Menschen wäre deshalb eine generelle Impfung für Kinder, wie sie in den USA praktiziert wird. Ältere Menschen würden sich dann seltener anstecken, und auch die Kinder würden profitieren, weil sie besonders häufig an Grippe erkranken.

Ohne modernere Impfstoffe und schnellere Produktionsverfahren wird den Tücken der Influenzaviren nicht beizukommen sein. In der gerade beginnenden Grippesaison wird schon wieder eine Variante des H3N2 beobachtet, gegen die der Impfstoff wahrscheinlich nicht wirksam ist. Und von den beiden aktuell zirkulierenden Typen des Influenza-B-Virus ist mit der Dreifachimpfung nur eines abgedeckt. Insbesondere für Kinder wäre deshalb die neuerdings verfügbare Vierfachimpfung zu empfehlen, die gegen beide Influenza-B-Typen schützt. Doch weil die gesetzliche Kasse das nicht bezahlt, gibt es dazu keine offizielle Stellungnahme.

Von den Unzulänglichkeiten der Grippeimpfstoffe ist auch in den Kampagnen nichts zu hören. Solange die Behörden jedoch Gratiswerbung für schlecht wirksame Oldtimer machen, lohnt sich für die Hersteller die Entwicklung neuer Impfstoffe nicht. Leider ist auch das gemeinsame Schweigen von Behörden und Industrie ein fester Bestandteil des alljährlichen Rituals.

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