Es laufen immer noch Tränen an dem Ort, an dem Daniel H. erstochen wurde. Zwei junge Frauen schauen mit leerem Blick auf das Blumen- und Kerzenmeer, das seit einer Woche wächst. Auf den Gehwegplatten klebt immer noch sein Blut. Still ist es hier nie geworden, seit der junge Mann sein Leben verloren hat. Sein Tod, die anschließenden rechtsextremen Proteste und Ausschreitungen wurden zum bundesweiten Politikum. Und auch eine Woche danach bleibt es laut: Der Bass drückt durch die Brückenstraße. Der Chemnitzer Rapper Trettmann erzählt aus seiner Kindheit: "Grauer Beton, harter Jargon".
Eine Woche nachdem Daniel H. erstochen wurde und anschließend Neonazis seinen Tod zum Anlass genommen haben Migranten in der Stadt anzugreifen, Nazi-Parolen zu rufen und den Hitlergruß zu zeigen, versammeln sich Zehntausende Menschen vor der Bühne nahe dem Ort des Verbrechens. Mit aller Kraft demonstriert die Stadt, dass es nicht die Mehrheit ist, die auf der Seite von rechten Gruppierungen steht. Die absolute Mehrheit der Chemnitzer ist bereit, gegen Rassismus und Hetze auf die Straße zu gehen. Am Ende ist die Veranstaltungsfläche gar zu klein. Bis auf benachbarte Straßen stehen Menschen. Mit 10.000, vielleicht 20.000 Besuchern rechnen die Veranstalter anfangs. Am Ende werden es deutlich mehr, die Stadt spricht sogar von 65.000 Teilnehmern. Tausende, vielleicht Zehntausende, sind aus anderen Städten angereist.
"Ein Kompliment, wenn die mich scheiße finden"
"Die Musik, nein die gefällt mir nicht", sagt Wolfram, Mitte 50. "Aber darum geht es uns nicht." Zu viert sind sie aus einem Vorort gekommen, um zu zeigen, "dass jeder Anständige heute hier sein sollte", wie er sagt. Der Tod von Daniel H. sei politisch missbraucht worden von den Rechten. Vor der Bühne wehen Flaggen der Antifa, die kommunistische MLPD hat einen Stand aufgebaut. "Klar ist das hier eine politische Veranstaltung. Aber es bleibt friedlich. Hier wird niemand angegriffen oder verfolgt, weil er anders aussieht", sagt Wolfram.
Vor dem Konzert gab es viel Kritik, vor allem am Auftritt der Band Feine Sahne Fischfilet, der gute Kontakte zur linksradikalen Szene nachgesagt werden. Zeitweise wurde die Gruppe vom Verfassungsschutz beobachtet. Bei einer Pressekonferenz vor dem Konzert entgegnet Monchi, der Frontmann der Band auf die Kritik: "Der Verfassungsschutz? Das ist die Behörde, die den NSU erst möglich gemacht hat. Das ist ein Kompliment, wenn die mich scheiße finden."
Auch während des Konzerts wird klar, dass die Musiker und die Veranstalter der Politik eine gehörige Mitschuld an der Existenz der Neonazi-Szene in Sachsen geben. "Die CDU ist seit Jahrzehnten Teil einer Politik, die Nazis Raum gibt", sagt etwa Rolah Saleh vom Bündnis Chemnitz Nazifrei. Eine andere Rednerin wirft den Beamten vor, bei linken Kundgebungen SEK und Wasserwerfer einzusetzen. "Aber wo wart ihr in Heidenau?", ruft sie. Mehrere Hundertschaften aus sechs Bundeländern und der Bundespolizei sind angereist, um das Konzert zu schützen.
Eine Teilnehmerin des Konzerts kann die Kritik an der Polizei nicht verstehen. "Die sind doch extra gekommen, um uns zu schützen." Sie will gehört haben, wie in der Menge "Nieder mit Deutschland" gerufen wurde. Dafür hat sie kein Verständnis. Saleh zitiert die "Internationale", das Kampflied der Sozialisten. Ein älterer Herr schüttelt mit dem Kopf und entfernt sich vom Konzert. Die eine Veranstaltung ist manchen zu rechts, die andere zu links. Dass derzeit die Zwischentöne fehlen würden, ist in Chemnitz dieser Tage oft zu hören.
Mike kann derartige Kritik nicht nachvollziehen. Er und seine Freunde halten ein mehrere Meter langes Antifa-Banner in die Luft. "Bei uns geht es um Toleranz. Das Gegenteil davon, Intoleranz, darf natürlich bekämpft werden", sagt er. Mike ist für das Konzert aus Zürich angereist. "Wir wollten zeigen, dass wir auch in der Schweiz solidarisch sind." Einige Meter weiter steht Josef hinter einem Stand der kommunistischen Partei MLPD und verteilt Flyer. Natürlich dürften Parteien bei einem solchen Anlass für ihre Sache werben, findet er. "Das ist Meinungsfreiheit", sagt er. Parteien wie der AfD dürfe solcher Raum nicht gegeben werden. "Das ist eine faschistische Partei, die gehört verboten."
Bizarre Szenen am Ort des Verbrechens
Mit #wirsindmehr erlebte Chemnitz, die blanken Zahlen betrachtet, den Höhepunkt einer Woche, in der kaum ein Tag ohne Kundgebungen verlief. Gewalt, Proteste, Gegenproteste. "Es hat sich ganzschön hochgeschaukelt", findet Wolfram, der die Musik nicht mag. "Aber vielleicht musste das sein, um ein Bewusstsein zu schaffen, was hier los ist". Weitere Kundgebungen sind derzeit nicht geplant. Das Konzert könnte mit über 50.000 Besuchern den Abschluss einer turbulenten Woche in der Stadt bilden. Erhalten bleiben dürften jedoch die Gräben, die sich in dieser Woche aufgetan haben. Der tödliche Angriff auf Daniel H. hat die Gesellschaft - nicht nur in Chemnitz - extrem polarisiert.
Wie hysterisch die Stimmung teilweise geworden ist, zeigt sich, als das Konzert in Chemnitz lange vorüber ist. Am Gedenkort für den 35-Jährigen, dort, wo die Kerzen und Blumen stehen, ist Geschrei zu hören. Rund zwei Dutzend Menschen haben eine Sitzblockade gebildet, die Polizei bereitet sich mit Beamten der Hundertschaft darauf vor, zu räumen.
Am Gedenkort selbst sitzen - abgeschirmt von der Polizei - einige Menschen ganz ruhig. Gerüchte haben die Runde gemacht, die Polizei wolle die Kerzen und Blumen abräumen, was die Beamten dementieren. Andere erzählen sich, dass linke Demonstranten darin eine Art "Pilgerort" für Rechte sehen, deshalb demonstrieren. Rechte? Bei den Kerzen sitzen zwei junge Männer, die erzählen, dass sie selbst auf dem Konzert waren und sich damit abgewechselt hätten, auf den Ort aufzupassen. Sie kannten Daniel H. Nun wird gegen sie demonstriert. Sie verstehen es nicht. "Hier wird der Linke zum Rechten und der Rechte zum Linken, es ist einfach alles nur noch verrückt", sagt der eine. Und auch die Polizei weiß nicht, wer hier eigentlich gegen was demonstriert. Es bleibt einfach nur laut, an dem Ort, wo Daniel H. gestorben ist.
Quelle: n-tv.de
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