Papst Franziskus hat davor gewarnt, Fehlverhalten früherer Zeit ausschließlich nach heutigen Kriterien zu betrachten. Das gelte auch für den Umgang mit sexuellem Missbrauch, sagte er. In früheren Zeiten seien solche Vergehen überall verschwiegen worden - beispielsweise auch in Familien, "wo der Onkel die Nichte vergewaltigte, der Vater die Kinder - weil das eine riesengroße Schande war".
Zugleich betonte Franziskus, dass er die Vertuschung von sexuellem Missbrauch in der Kirche nicht entschuldige. Natürlich seien Menschen heute mit Recht durch entsprechende Skandale in der Kirche empört, Kindesmissbrauch durch Kirchenmänner sei besonders "monströs". Bei einer Versammlung junger Christen in der estnischen Hauptstadt Tallinn hatte er am Dienstag eine Entfremdung Gläubiger von der katholischen Kirche wegen der Vergehen von Geistlichen eingeräumt.
"Aus dem Zusammenhang ihrer Zeit deuten"
Historische Tatsachen seien aber aus dem Zusammenhang ihrer Zeit zu deuten und nicht allein mit heutigen Maßstäben. Das gelte etwa für die Beurteilung von Verbrechen gegen indigene Bevölkerungen, die oft äußerst grausam gewesen seien. Ähnlich verhalte es sich bei der Todesstrafe, die noch Ende des 19. Jahrhunderts auch im Kirchenstaat angewandt worden sei. Erst kürzlich hatte der Papst erklärt, dass die Kirche fortan Hinrichtungen unter jeglichen Umständen als unzulässig betrachte.
Das moralische Bewusstsein wachse über die Jahre hinweg, sagte Franziskus. Auch die Kirche habe lernen müssen. So zeige etwa der Bericht über den Umgang mit sexuellem Missbrauch in Bistümern des US-Bundesstaates Pennsylvania, dass vor allem in den ersten 70 Jahren des untersuchten Zeitraums Priester schuldig geworden seien. In jüngster Zeit seien die Zahlen deutlich zurückgegangen, weil die Kirche aufmerksamer geworden sei. So habe er in jüngster Zeit von der Glaubenskongregation zahlreiche Urteile gegen Geistliche erhalten, und er habe die Behörde aufgefordert weiterzuarbeiten. Das sei nicht verhandelbar.
Kritik am Papst
Der frühere Vatikanbotschafter in den USA, Carlo Maria Viganò, wirft dem Papst vor, den US-Ex-Kardinal Theodore McCarrick rehabilitiert zu haben, obwohl Benedikt XVI. diesen wegen des Missbrauchs von Seminaristen bestraft hatten. Bei einer Presserunde an Bord der Maschine, mit der er von seiner Baltikum-Reise nach Rom zurückkehrte, erlaubte Franziskus einem Reporter nicht, zu dem Fall eine Frage zu stellen. Es wird erwartet, dass der Vatikan bald dazu Stellung nimmt.
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