Kampf der wilden Kerle

  06 Januar 2016    Gelesen: 703
Kampf der wilden Kerle
Schweiß, Dreck, rohes Fleisch – und mittendrin Leonardo DiCaprio: Der Überlebenswestern "The Revenant" zeigt Längen, doch er könnte seinem Helden einen Oscar bescheren.
Weiter hätte sich Alejandro González Iñárritu von seinem Oscar-Triumph Birdman nicht entfernen können: aus der Enge eines New Yorker Theaters und seiner neurotischen Angestellten hinein in die nordamerikanische Wildnis des frühen 19. Jahrhunderts, wo echte Kerle im Pioniermodus nicht nur gegen die Unbilden der Natur, sondern auch gegen feindlich gesonnene natives und die Konkurrenz aus den eigenen Reihen kämpfen.
Einer von ihnen ist Hugh Glass (Leonardo DiCaprio). Seine Geschichte gehört zu den beliebten Lagerfeuermythen der amerikanischen Folklore, hat der Mann nicht nur den Angriff eines Bären und seine eigene vorzeitige Beerdigung überlebt, sondern den halb zerfetzten Körper durch Hunderte Kilometer Wildnis zurück in die sogenannte Zivilisation geschleppt.

Im Digitalzeitalter staunt man ja immer seltener im Kino. Die Frage "Wie haben die das nur gemacht?" stellt sich angesichts des ausgebufften Pixelhandwerks kaum noch einer. Aber so etwas wie den Angriff des Bären, den Iñárritu in The Revenant mit atemberaubenden Naturalismus orchestriert, hat man in dieser Art auf der Leinwand noch nie gesehen. Wenn das Riesentier von hinten angerannt kommt und einen der bestbezahlten Schauspieler Hollywoods niederreißt, umherschleudert und mit seinen scharfen Krallen zerfetzt, verschlägt es auch den abgebrühtesten Kinogängern den Atem.
156 Minuten Rache

Mit dem Angriff des übermächtigen Tieres hat der Film sein Thema gefunden. Denn in The Revenant geht es 156 Filmminuten lang ums nackte Überleben. Halbtot wird Glass von seinem Expeditionstrupp im Wald gefunden. Die Männer haben sich in die Wildnis vorgearbeitet, um zu jagen. Der Pelzhandel ist in der jungen amerikanischen Wirtschaft ein wichtiger Faktor. Das Wild wird massenweise erlegt und den Eingeborenen damit ihre Lebensgrundlage entzogen. Indianerüberfälle sind an der Tagesordnung, genauso wie systematische Massaker an den Ureinwohnern durch die US-Armee.

Glass hat lange mit den Indianern zusammengelebt, bis seine Frau bei einem Armeeüberfall ermordet wurde. Mit ihrem gemeinsamen Sohn hat er sich in den Dienst der Pelzjäger gestellt, und die Männer sind nicht gut auf das "Halbblut" zu sprechen. Als Glass nach dem Angriff des Bären schwer verletzt im Lager liegt, muss er wehrlos mit ansehen, wie sein Sohn von dem rassistischen Trapper John Fitzgerald (Tom Hardy) ermordet wird. Die Leiche des Jungen bleibt im Wald liegen, der halbtote Vater wird lebendig begraben. Aber Glass gibt nicht auf und arbeitet sich allen medizinischen, meteorologischen und kriegerischen Widrigkeiten zum Trotz durch die winterliche Wildnis, um Rache zu nehmen.
Jeder kann sich vorstellen, wie ein Leonardo DiCaprio die Rolle eines solchen Durchbeißers ohne jegliches Understatement spielt. Allzu deutlich merkt man, dass er diesmal bei der Oscar-Verleihung nicht leer ausgehen will. Von Gilbert Grape (1994) bis zu Wolf of Wall Street (2014) war DiCaprio bereits viermal nominiert, ohne die begehrte Trophäe je mit nach Hause nehmen zu können. Allein aufgrund der potenziellen, kollektiven Schuldkomplexe der Academy darf er nun als verlässlicher Favorit gelten.

Maskuliner Überlebenskampf

Aber auch wenn DiCaprio in The Revenant sehr eindrücklich auf den Hund kommt, hätte seine weitaus vielschichtigere Performance in Wolf of Wall Street eher eine Auszeichnung verdient. Als Survival-Berserker in der nordamerikanischen Wildnis bietet er dem US-Publikum sicherlich eine Menge historisch-mythisches Identifikationspotenzial. Aber die Grenzüberschreitungen ins Reich des Overacting setzen auf einer zweieinhalbstündigen Filmlänge auch erhebliche Ermüdungserscheinungen frei.

Der Film hört nicht auf, seinen Helden immer neuen Gefahrensituationen und Schindereien auszusetzen. Iñárritu suhlt sich förmlich in diesem maskulinen Überlebenskampf und inszeniert ihn auf sehr körperliche Weise. Schweiß, Dreck, Wunden, Blut und der Verzehr von rohem Fleisch werden auf haptische Weise ins Bild gesetzt. Der Testosteronüberschuss, der hier im Kampf der wilden Kerle generiert wird, ist ebenso gewaltig, wie die epische Überlebensgeschichte in ihrer Grundaussage überschaubar bleibt.
Trotzdem muss man Iñárritu zugutehalten, dass er mit The Revenant einen äußerst eindrücklichen Western geschaffen hat, der sich allen Glorifizierungen von Pionierleben und Eroberungskriegen strikt verweigert. Dazu gehört auch eine gewisse Ehrfurcht gegenüber der Schönheit und den Gefahren der Natur, die der Kameramann Emmanuel Lubezki in seinen stimmungsvollen Landschaftsaufnahmen vermittelt.



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