Schuften in der Fremde

  05 Dezember 2018    Gelesen: 1062
Schuften in der Fremde

Neun Millionen Armenier arbeiten im Ausland – offiziell. Mindestens eine weitere Million arbeitet schwarz in Russland oder der Ukraine, um zu Hause die Familie zu ernähren. Viele Väter warten darauf, dass sie irgendwann auch in Armenien ihren Lebensunterhalt verdienen können.

Vor dem Abendessen wird noch Musik gemacht: So ist das fast jeden Abend bei Familie Tumasyan. Der 10-jährige Levon spielt die traditionelle armenische Handtrommel „Dhol“, sein Bruder Felix, 12 Jahre alt, „Duduk“, eine Flöte mit einem speziellen, besonders breiten Mundstück.

Amalia Tumasyan sitzt am Esstisch im Wohnzimmer der Familie, hat ihr Smartphone in der Hand und gibt ihren Söhnen zwischendurch kurze Hinweise, wie sie diese oder jene Passage vielleicht noch feiner, leiser oder lauter spielen könnten – die beiden Jungs gehen immerhin ein Mal pro Woche in die Musikschule, und der Aufwand soll sich lohnen.

Keine Arbeit in der Heimat

Die Tumasyans bewohnen ein einstöckiges Häuschen am Stadtrand von Gyumri: Ein Gebäude aus dem 19. Jahrhundert – solide gebaut und deshalb nicht zerstört beim schweren Erdbeben vor 30 Jahren. Die Straße direkt vor dem Wohnzimmerfenster ist nicht zu sehen – Gyumri muss Strom sparen, und die Straßenlaternen bleiben mal wieder ausgeschaltet an diesem Abend.

Die Tante der Jungs ist zu Besuch, Greta ist die Schwester von Amalias Mann Gamlet. Sie ist die einzige in der Familie, die eine geregelte Arbeit hat:

„Es gibt hier kaum Arbeit, und das ist ein Riesenproblem. Wenn es Arbeit gäbe, müsste mein Bruder ja nicht schwarz in Russland arbeiten. Ich selbst bin seit 30 Jahren Lehrerin, unterrichte Chemie und Biologie in dem Dorf, aus dem meine Familie stammt. Ich nehme die beiden Jungs jeden Morgen mit. Sie gehen da zur Schule, weil die Schulen hier in der Stadt zu teuer sind.“

Seit zehn Jahren getrennt von der Familie

Fast das ganze Jahr über ist der Vater, Gamlet, nicht zu Hause, schuftet auf Baustellen im fernen Moskau. Um Weihnachten herum kommt er dann für sechs Wochen nach Hause, steigt dann im Januar in den Flieger zurück nach Russland. Seit zehn Jahren leben die Tumasyans nun schon so – kein Einzelschicksal, sondern gesellschaftliche Realität in Armenien.

Die offiziell neun Millionen Auslandsarmenier sind das Eine, doch in fast jeder Familie gibt es Männer, die ihre Familien mit Schwarzarbeit in Russland oder der Ukraine ernähren. Auf eine Million wird ihre Zahl geschätzt. Viele entfremden sich mit der Zeit, brechen den Kontakt zu den Daheimgebliebenen irgendwann völlig ab und gründen in der Fremde eine neue Familie.

Videoanruf ins ferne Moskau

Amalia und ihren Söhnen bleibt die meiste Zeit über nur der Videoanruf per Smartphone ins ferne Moskau. Doch die Verbindung ist schlecht an diesem Abend. Erst nach einigen Anläufen ist der Vater endlich zu sehen auf dem Display, seine Stimme bleibt verzerrt.

„Wir sind hier zu sechst untergebracht in einem Raum auf der Baustelle, alles Armenier, im Prinzip schlafen wir da, wo wir arbeiten. Zwölf Stunden Arbeit, ein Tag frei pro Monat, so sieht das aus hier. Dafür bekomme ich 400 Euro am Ende des Monats bar auf die Hand. Viel zu wenig. Aber was soll man machen?“

Die Verbindung bricht ab. Zeit für Felix und Levon noch ihre Hausaufgaben zu erledigen.

Ob sich an der schwierigen Situation mit dem Vater in Moskau irgendwann etwas ändern wird? Amalia und Greta zucken mit den Schultern. Vielleicht, wenn die beiden Jungs größer sind. Aber so weit in die Zukunft plant die Familie nicht. Sie weiß nur: Morgen werden sie wieder den Vater, Ehemann, Bruder ins Wohnzimmer nach Gyumri holen, für ein paar Minuten, über eine wacklige Internet-Verbindung.

deutschlandfunk.de


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