Zu gerade einmal neun Monaten auf Bewährung war Tigran S. im Juni 2017 verurteilt worden. Das Landgericht Erfurt sah es damals als erwiesen an, dass der armenische Gastwirt an der Bildung einer bewaffneten Gruppe beteiligt war. Auch war klar, dass er unerlaubt eine scharfe Schusswaffe trug. Doch dass er in jener Julinacht 2014 tatsächlich seine Pistole auf die flüchtenden Männer abfeuerte, mochten die Richter nicht erkennen.
Dabei hatte eine Überwachungskamera die wilde Schießerei im Erfurter Norden aufgezeichnet. Allerdings ist die Qualität der Aufnahmen schlecht - ein Gutachter konnte die Schussabgabe nicht zweifelsfrei feststellen. Der Schütze selbst behauptete über seine Verteidiger, nur in die Luft geschossen zu haben. Außerdem hatte er den eigenen Vater getroffen, der eher zufällig im Schussfeld von Tigran S. stand.
Sind Beweise nicht ausgewogen gewürdigt worden?
All diesen Faktoren folgte das Landgericht im Sinne des Angeklagten. Die Ermittler des Landeskriminalamtes waren schockiert. Es werde geschossen, es werden Menschen lebensgefährlich verletzt und einer der Schützen komme mit einer Bewährungsstrafe davon - so die Beamten.
Ähnlich sah es die Staatsanwaltschaft Gera, die in Thüringen die Organisierte Kriminalität bekämpft. Sie legte Revision ein. Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft schloss sich der Beschwerde gegen den Teilfreispruch an. Schließlich auch die Bundesanwaltschaft. Die Kritik: die Beweiswürdigung des Landgerichts sei lückenhaft. Nur entlastende Faktoren wurden gewürdigt, nicht aber die Gesamtsicht, die gegen simple Schüsse in die Luft sprach.
Hat Tigran S. geschossen oder nicht?
Außerdem hatte Tigran S. keine zehn Minuten nach den Schüssen seinem Bruder am Telefon erklärt, er habe ihren Vater ins Bein geschossen. Das Telefon des Bruders wurde zu diesem Zeitpunkt von der Polizei überwacht. Vor Gericht behauptete Tigran S., er habe das nur erzählt, um den Bruder von Vergeltungsmaßnahmen abzuhalten. Das Gericht glaubte dem. Die Staatsanwaltschaft nicht. Vielmehr sei es eine Schutzbehauptung - vermutete die Anklagebehörde.
Nun muss eine andere Kammer des Landgerichts Erfurt das Verfahren in diesem Fall erneut aufrollen. Wieder werden Zeugen gehört, die sich kaum erinnern können. So war es schon im ersten Anlauf des so genannten Mafia-Schießerei-Prozesses in Erfurt. Mitte Mai 2015 hatte der Prozess gegen elf Angeklagte unter scharfer Polizeibewachung begonnen.
Tigran S. saß erst nicht auf der Anklagebank: er war nach Armenien geflohen. Als er durch einen Zufall in Erfurt aufgegriffen wurde, musste der Prozess ein zweites Mal beginnen. Das war im Februar 2016. Mehr als ein Jahr wurde zäh verhandelt. Immer wieder wurden Beteiligte der Schießerei auffällig: mal in einem Rotlicht-Betrieb, mal bei einer wüsten Schlägerei nach einem Boxkampf in Erfurt.
Wann kommen endgültige Beweise ans Licht?
Was die armenische Gang nicht ahnte: die Schießerei von Erfurt rief das Bundeskriminalamt auf den Plan. Im Juli 2015 gründete das BKA die nationale Ermittlungsgruppe "FATIL“ - "Fight Against Thieves in Law“ - der "Kampf gegen die Diebe im Gesetz.“ Sechs Landeskriminalämter schlossen sich hier zusammen, fünf LKA halfen anlassbezogen. Daneben waren auch die Bundespolizei, der Zoll, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie Europol und die Polizei anderer europäischer Staaten unterstützend dabei. Die Sondereinheit kam zu dem nüchternen Ergebnis, dass es tatsächlich eine "armenische Mafia“ in Deutschland gibt, die sich an der Ideologie der "Diebe im Gesetz“ (Paten der russischen Mafia) orientiert. Endgültige Beweise konnte die Arbeitsgruppe allerdings nicht erbringen: weder die Zeit, noch die Ressourcen hätten gereicht, um die höchst konspirativ agierenden Clans zu überführen - heißt es im Abschlussbericht von "FATIL.“ Die Ermittlungen gegen die "armenische Mafia“ laufen weiter - nur betrieben von den einzelnen Landeskriminalämtern.
mdr.de
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