Helmut Schmidts Stimme wird vermisst

  23 Dezember 2018    Gelesen: 835
Helmut Schmidts Stimme wird vermisst

Als Helmut Schmidt regierte, erhielt die SPD bei Bundestagswahlen noch mehr als 40 Prozent. Mit Sicherheit würde der derzeitige Zustand seiner Partei auch ihn leiden lassen. Der ehemalige Kanzler kämpfte zeitlebens um die politische Mitte.

Was würde Helmut Schmidt über den derzeitigen Zustand der Großen Koalition im Einzelnen und den der deutschen Sozialdemokratie im Besonderen sagen? Sicherlich nicht viel, denn der Standardspruch des Altkanzlers in seinen letzten Lebensjahren lautete stets: "In die Tagespolitik mische ich mich nicht mehr ein. Das sollen die heutigen Verantwortlichen machen."

Ob Schmidt, der am 23. Dezember 100 Jahre alt geworden wäre, sich das SPD-Debattencamp angetan hätte? Vielleicht, aber mit Sicherheit ohne große Begeisterung. Der Wust an Wünschen, Forderungen und Reformvorschlägen hätte den Hamburger genervt. Bei einigen Diskussionspunkten wäre ihm der Satz rausgerutscht: "Das ist dummes Zeug." Die Debatte darüber wäre dann für Schmidt beendet gewesen - getreu eines anderen seiner Sprüche: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen." Oberflächliches Gerede zu vielen Themen und als Ergebnis bunte Zettelchen an einer großen Tafel: Eine solche Veranstaltung wäre nicht nach dem Geschmack des kühlen Hanseaten gewesen.

Schmidt hatte im hohen Alter durchaus akzeptiert, dass die jüngere SPD-Generation anders tickt als die Kriegs- und Nachkriegsgeneration und dass sich dies auch im konkreten Partei- und Regierungshandeln niederschlägt. "Sie haben einem uralten Mann zugehört. Sie müssen ihn nicht unbedingt ernst nehmen", sagte er bei einem Auftritt im SPD-Bundestagswahlkampf 2013 in Brandenburg. Trotz allem: Schmidt war ein begnadeter Schauspieler, der sein Talent gezielt einsetzen konnte. So machte er seine Spielchen mit dem politischen Gegner und den "Wegelagern" der "Journaille". Recht wollte er immer behalten, meistens hatte er es auch.

Schwieriges Verhältnis zu Brandt und Wehner

Wäre eine Koalitionsregierung unter einem Kanzler Schmidt in eine solche Krise gerutscht wie das Kabinett Merkel IV? Er hätte es nicht so weit kommen lassen. Ein Schlagabtausch unter Regierungsmitgliedern wie zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer wäre unter ihm nicht eskaliert. Allerdings stand Schmidt als Kanzler auch keinem Bundeskabinett aus Union und SPD vor, er führte ein kleineres Bündnis aus SPD und FDP. Und das noch im beschaulichen Bonn und nicht im daueraufgeregten Berlin.

Dabei hatte es auch Schmidt mit großen politischen Kalibern zu tun. Der wendige Hans-Dietrich Genscher und der knorrigen Otto Graf Lambsdorff, die er mit anderen FDP-Ministern infolge des Koalitionsbruchs im September 1982 vor die Tür setzte, waren keine einfachen politischen Zeitgenossen.

In seiner SPD musste er mit dem in großen Teilen der Bevölkerung beliebten Willy Brandt als Parteichef und "Zuchtmeister" Herbert Wehner klarkommen, dem Chef der Bundestagsfraktion. Gerade der ehemalige Kommunist Wehner, der wie kein anderer Sozi politisches Gift auch in den eigenen Reihen versprühen konnte und Brandt während dessen Kanzlerschaft unter anderem mit der Bemerkung "Der Herr badet gerne lau" traktierte, musste mit Vorsicht genossen werden. Schmidts Vorteil war sein gefürchtetes Mundwerk - "Schmidt Schnauze" als wirksames Mittel für das Überleben im politischen Haifischbecken.

Mit Breschnew daheim in Hamburg-Langenhorn

Schmidt und Merkel haben durchaus Gemeinsamkeiten. Es ist nicht nur der Geburtsort Hamburg, der beide verbindet. Sie waren beziehungsweise sind Pragmatiker, die den Wählern nicht das Blaue vom Himmel versprechen beziehungsweise versprachen. Merkels "Fahren auf Sicht" ist kein neuer politischer Stil. Schmidt hat ihn zu seiner Zeit bereits praktiziert - in einem geopolitischen Umfeld, das aufgrund des Eisernen Vorhangs übersichtlicher war. Auch er hatte es mit schwierigen Partnern zu tun: Die konservative marktliberale Überzeugungstäterin Margaret Thatcher, die mächtigen, aber senilen Kommunisten Leonid Breschnew und Mao Zedong sowie der mit einem gewissen missionarischen Eifer ausgestattete Jimmy Carter waren durchaus harte Brocken für den Kanzler auf der internationalen Bühne.

Allerdings waren diese im Vergleich zu Donald Trump, Recep Tayyip Erdogan oder Wladimir Putin doch berechenbarer. Und Schmidt hatte mit dem französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing einen Freund und Mitstreiter, mit dem er in der Europa- und Verteidigungspolitik sowie in Wirtschafts- und Währungsfragen durch dick und dünn ging.

Schmidt schaffte es aber, auch schwierige Partner für sich zu gewinnen. So kam er mit Thatcher besser zurecht als später Helmut Kohl, weil die "eiserne Lady" den ökonomischen Sachverstand des Norddeutschen schätzte. Um Breschnew besser kennenzulernen und zu verstehen, lud Schmidt ihn in sein Wohnhaus in Hamburg-Langenhorn ein. Das zwanglose und lockere Gespräch fernab der Bundeshauptstadt Bonn war für Schmidt ein wirksames Mittel zum Zweck. Dennoch war Schmidt Ende der 1970er-Jahre auch der Vorreiter bei der atomaren Nachrüstung mit Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles in Westeuropa als Antwort auf die sowjetischen SS-20-Mittelstrecken. Er drängte US-Präsident Carter regelrecht zu diesem Schritt.

Bewunderer von Dengs Politik der Öffnung, Kampf gegen die RAF

Faszinierend fand Schmidt den chinesischen Reformer Deng Xiaoping, dessen wirtschaftliche Öffnungspolitik maßgeblich dafür verantwortlich war, dass das Reich der Mitte binnen kurzer Zeit zu einer ökonomischen Weltmacht wurde. Bis zuletzt verteidigte er die chinesische Politik, argumentierte gegen Kritik am repressiven politischen System in der Volksrepublik. Die Tatsache, dass es Deng und seinen Nachfolgern gelungen war, das Milliardenvolk von Hungersnöten zu befreien, war für Schmidt ihre größte Leistung. "Ich bin dagegen, dass Außenpolitik darin besteht, die Besuche von Ministern aus einem anderen Land dafür zu benutzen, eine menschenrechtsgeneigte Rede zu halten, die in Wirklichkeit an das eigene Publikum gerichtet ist", sagte er einmal zur Kritik deutscher Politiker hinsichtlich der Menschenrechtslage in China: "Wenn ich das Thema mit einem Politiker eines anderen Landes erörtern wollte, dann täte ich das jedenfalls nicht öffentlich." Damit war für Schmidt das Thema durch. Merkel handhabt es übrigens ähnlich.

Schmidt konnte hart sein - auch gegen sich selbst. Seine Erfahrungen als Offizier im Zweiten Weltkrieg trugen dazu bei. Schmidt sprach in diesem Zusammenhang von der "großen Scheiße", die "Adolf Nazi" über das deutsche Volk gebracht habe. Diese Härte half Schmidt als Hamburger Innensenator, als er während der großen Sturmflut, die die Hansestadt im Februar 1962 heimsuchte, mithilfe der Bundeswehr die Rettungsarbeiten managte. "Ich habe das Grundgesetz nicht angeguckt in jenen Tagen", sagte er Jahrzehnte später.

Im sogenannten Deutschen Herbst 1977, als die Rote-Armee-Fraktion die Bundesrepublik mit Terror überzog, entschied sich Schmidt gegen den Austausch des entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer für zwei inhaftierte RAF-Mitglieder und lud damit nach eigenen Angaben Schuld auf sich. Eine nach Mogadischu entführte Lufthansa-Maschine ließ er durch ein GSG-9-Kommando stürmen. Wäre das schiefgegangen, hätte Schmidt den Kanzlerstuhl geräumt. Erst einige Jahre später räumte er ein, dass er nach der geglückten Befreiungsaktion auch geweint habe. Auf die Frage, warum er in dieser Zeit immer so gefasst gewirkt habe, antwortete er nur, dass niemand einen Regierungschef mit einer Träne im Knopfloch sehen wolle.

Lieblingsgegner Strauß

Schmidt konnte auch verletzend sein - er war ein Mann mit Ecken und Kanten. Sowohl der politische Gegner als auch die eigenen Genossen bekamen dies zu spüren. Oppositionsführer Kohl beklagte die Arroganz des Kanzlers. In der TV-Elefantenrunde zur Bundestagswahl 1980 brachte er - genüsslich dabei rauchend - den CDU-Chef mit scharfen Zwischenbemerkungen aus dem Konzept. Schmidt sah Kohl in dieser Zeit nicht als einen Politiker an, der in seiner Liga spielte. Viel lieber stritt sich Schmidt mit dem impulsiven CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß, der zu dieser Zeit Kanzlerkandidat der Union war. Der Hamburger wurde mitunter persönlich und attackierte den Mann aus Bayern scharf: "Dieser Mann hat keine Kontrolle über sich. Und deshalb darf erst recht keine Kontrolle über unseren Staat bekommen." Strauß bekam diese auch nicht.

Schmidt selbst sah sich immer als Dienender. Er kokettierte immer wieder damit, dass er eigentlich nur eine kurze Kanzlerschaft im Auge gehabt habe. Nachdem er Willy Brandt im Mai 1974 abgelöst hatte, rechnete er damit, dass er nur bis zur Bundestagswahl 1976 die Geschicke der Bundesrepublik leiten würde. Aber die Wähler machten nicht mit und statteten die sozial-liberale Koalition mit einer hauchdünnen Mehrheit aus. Acht Jahre lang sollte Schmidt das Regierungsruder in der Hand behalten.

Es ist schon beeindruckend, dass ein Mann zu einem Jahrhundert- und Weltpolitiker avancierte, der das Land nicht im allerbesten Zustand an seinen Nachfolger übergab. In den Augen vieler Deutscher ist der Sozialdemokrat sogar der bedeutendste Bundeskanzler der Nachkriegsgeschichte. Mehr als zwei Millionen Arbeitslose gab es in Westdeutschland bei seinem Rückzug im Oktober 1982, der Staatshaushalt hatte ein riesiges Loch und für dringende arbeitsmarktpolitische Reformen hatte Schmidt keine Mehrheit in seiner SPD. Vielleicht lag es am provinziell rüberkommenden Kohl, der die Sehnsucht nach Schmidt größer werden ließ.

Besuch "beim lieben Gott"

Aber er nutzte auch geschickt die Medien, mehr noch: Er lief zu den "Wegelagerern" über und wurde Herausgeber der "Zeit". Das Hamburger Wochenblatt wurde zu seinem Sprachrohr, über das er seine Sicht der Dinge kundtat. Unzählige Artikel schrieb er für die "Zeit". Er hielt weltweit Vorträge, trat in Talkshows auf - Schmidt als "Elder Statesman". An seine Partei näherte er sich wieder an. Gerhard Schröder, der Schmidt als Juso-Chef immer wieder genervt hatte, suchte während seiner Kanzlerschaft Rat beim Hamburger. Auch Sigmar Gabriel ließ sich als SPD-Chef "beim lieben Gott" blicken.

Was würde Schmidt über die heute am Boden liegende SPD sagen? Mit Sicherheit nicht, dass sie nach links rücken sollte, um dort verloren gegangene Wählerstimmen zurückzuholen. Sein Nachfolger Schröder denkt, Schmidts Antwort zu parat haben: "Wenn die SPD etwas von der Ära von Helmut Schmidt für heute lernen kann, dann ist es eines: Mehrheiten werden in der politischen Mitte gewonnen, nicht an Rand." Die Sozialdemokraten benötigten Kompetenz in den Bereichen Wirtschaft und innere Sicherheit. Schmidt habe den Menschen Orientierung gegeben.

Mag sein, dass Schröder damit recht hat. Der SPD fehlt momentan der politische Kompass. Zu ihrer Ehrenrettung sei bemerkt, dass die gesellschaftlichen und damit auch die politischen Verhältnisse in Deutschland komplizierter geworden. Dennoch hätte ein Mann wie Helmut Schmidt auch dazu einiges zu sagen. Deshalb ist es schade, dass ein Mann der klaren Worte wie er nicht mehr befragt werden kann.

Quelle: n-tv.de


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