Die USA haben Russland über ihren Austritt aus dem Vertrag informiert, worauf Moskau prompt nach dem „Spiegelprinzip“ reagierte. Dabei sagte der russische Präsident Wladimir Putin, dass der Kreml diesbezügliche Verhandlungen mit Washington nicht mehr initiieren werde, und befürwortete die Vorschläge seines Verteidigungsministeriums, für seegestützte „Kalibr“-Raketen bestimmte Startanlagen auch für ihre bodengestützte Modifikation einzusetzen sowie bodengestützte Komplexe für Hyperschall-Mittel- und —Kurzstreckenraketen zu entwickeln.
Diese Nachrichten lösten zahlreiche Kommentare aus, dass Moskau über die faktische Abschaffung des wichtigsten Vertrags dieser Art gar nicht traurig sei. Diese Meinung ist durchaus gerechtfertigt, besonders, wenn man bedenkt, dass der INF-Vertrag vor allem für Russland nachteilig war, weil es kein Recht hatte, den europäischen Elementen der US-Raketenabwehr, die gerade in Osteuropa (Rumänien und Polen) aufgestellt werden, etwas entgegenzustellen.
Angesichts dessen stellt sich die durchaus logische Frage: Warum haben sich die USA überhaupt dafür entschieden? Russland hatte zwar tatsächlich legale Wege zur teilweisen Umgehung des INF-Vertrags gefunden (es wurden immerhin die erwähnten „Kalibr“-Raketen entwickelt), aber im Allgemeinen sah der INF-Vertrag viele Beschränkungen für Russland vor. Warum hat man in Washington plötzlich beschlossen, seinem wichtigsten Gegner de facto zu helfen?
Die Behauptungen, Trump wäre „ein Agent des Kremls“, sind natürlich lustig, aber unwahr: Der jetzige Herr des Weißen Hauses ist natürlich ein Patriot seines Landes, ein Geschäftsmann und ein sehr harter Unterhändler.
Die Antwort auf die Frage nach den Gründen für diese Entscheidung Washingtons muss man offensichtlich eben in diesem Bereich suchen.
Der Austritt der Amerikaner aus dem INF-Vertrag, auf den Moskau entsprechend reagiert hat, ist nicht für Russland, sondern vor allem für Europa äußerst ungünstig. Denn der INF-Vertrag deckte quasi gerade die Alte Welt ab, und jetzt werden Russlands neue Raketen, die es nach der Auflösung des Abkommens entwickeln wird, genau gegen sie gerichtet.
Aber auch das ist für Europa nur halb so schlimm. Sein größtes Problem ist eigentlich ein anderes: Es geht um die Beziehungen zwischen den Nato-Partnern auf beiden Atlantik-Seiten. Es wurde schon öfter darauf verwiesen, dass sich Europa für einen ziemlich eigenartigen Weg entschieden hat, seine Abhängigkeit von den USA zu überwinden. Im Kontext einiger Fragen, wo eine „ideologisch ausgeglichene“ Rhetorik nötig ist, zeigen die Europäer, dass sie Amerika immer noch treu ergeben sind. Aber wenn es um praktische Schritte geht, zeigt Europa sich selbstständig und widerspricht den Interessen und Plänen der Amerikaner.
Ein krasses Beispiel dafür sind die Beziehungen mit Russland. Einerseits kritisieren die Europäer den „undemokratischen“ Führungsstil des Kremls und reden ständig von der angeblichen „russischen Aggression“. Andererseits aber werden die Wirtschaftskontakte mit Russland wiederaufgebaut, und wenn die USA gegen den Bau der Gasleitung Nord Stream 2 auftreten, erwidern die Europäer stets, dies sei ein rein wirtschaftliches Projekt.
Mit seinem Austritt aus dem INF-Vertrag hat US-Präsident Trump dieser Konstruktion, die für Europa durchaus bequem ist bzw. war, einen herben Schlag versetzt.
Denn die Gefahr, dass russische Panzer plötzlich irgendwo in Estland, Schweden oder den Niederlanden erscheinen, ist gleich null – und in Brüssel, Berlin und Paris weiß man das ganz genau. Aber wenn Russland seine neuesten Mittel- und Kurzstreckenraketen aufstellt, wird für die Europäer eine Situation entstehen, die in den letzten 30 Jahren nicht mehr auf der Tagesordnung stand. Und diese Situation werden sie kaum noch beeinflussen können, denn auf ihrem Territorium sind immerhin US-amerikanische Raketenabwehrsysteme stationiert, denen Russland nun einmal etwas entgegenstellen muss.
Das bedeutet, dass Trump ein Argument in seinen Händen hat, mit dem er Europa unter Druck setzen und zusätzliche Beiträge zur Nato (sprich zur Entwicklung der US-Rüstungsindustrie) sowie andere politische Zugeständnisse verlangen kann (unter anderem hinsichtlich Russlands).
Angesichts dessen ist die enttäuschte, aber sehr zurückhaltende Rhetorik der Europäer zur Auflösung des INF-Vertrags durchaus nachvollziehbar. Vorlaute Erklärungen sind in Situationen gut, wenn man sich in Sicherheit fühlt. Eine ganz andere Sache ist aber, wenn man sich in einer Situation befindet, die im schlimmsten Fall zu einem richtigen Problem werden könnte. Da muss man schon aufpassen, was man sagt.
Es stellt sich die logische Frage: Vielleicht hätte Russland auf den Austritt aus dem INF-Vertrag vorläufig verzichten sollen, damit die Europäer weiterhin ihre „Bewegungsfreiheit“ genießen?
Denn auf dem Spiel stehen schließlich nicht nur die Nord-Stream-2-Pipeline und andere russisch-europäische Projekte, sondern auch Europas Schicksal im Allgemeinen, das seine Abhängigkeit von Washington überwinden will – und daran wäre Russland wohl sehr interessiert?
Die Antwort auf diese Frage ist ganz einfach.
Der Gewinn (bzw. die Wiederherstellung) der Unabhängigkeit Europas ist unmöglich, ohne dass es eine ganze Reihe von Herausforderungen überwindet, die niemand außer ihm selbst überwinden kann.
Europa hat in den letzten Jahren mehrere wichtige Schritte auf diesem Weg gemacht, und Washingtons immer größerer Druck nach der Auflösung des INF-Vertrags wird für die Alte Welt zu einer neuen Prüfung.
Falls die Europäer diese neue Attacke der Amerikaner in den Griff bekommen, kann Russland sich für sie – und auch für sich selbst – nur freuen. Aber wenn nicht, dann wird das nur ein Problem der Europäer selbst sein, die ewig nach den Regeln des frechen Hegemons aus Übersee spielen müssen. Doch für Russland gäbe es dann keinen Anlass, an diesem Spiel teilzunehmen – seine Sicherheit ist schließlich wichtiger als die Hoffnung, dass die Europäer seine Friedlichkeit irgendwann vielleicht hoch zu schätzen wissen und ihm entgegenkommen würden. Deshalb ist die Entwicklung der landgestützten „Kalibr“-Modifikation die einzige richtige Antwort auf diese Herausforderung.
sputniknews
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