Sigmar Gabriel, der Friedrich Merz der SPD

  05 Februar 2019    Gelesen: 1173
Sigmar Gabriel, der Friedrich Merz der SPD

Der SPD droht zur Europawahl ein historisches Debakel. Sollten Grüne und AfD an der SPD vorbeiziehen, sind die Tage von Andrea Nahles als Parteichefin gezählt. Ein Comeback von Sigmar Gabriel wird plötzlich denkbar.

In der SPD rumort es nicht bloß, es geht die nackte Angst ums Überleben um. Umfragen signalisieren der stolzen deutschen Sozialdemokratie ein dramatisches, katastrophales Wahlergebnis bei der Europawahl im Mai. Die CDU dürfte - nach derzeitiger Lage der demoskopischen Dinge - doppelt so gut abschneiden, die Grünen würden die SPD bundesweit wohl überholen, selbst die AfD könnte sie einholen. "Das wäre kein Debakel mehr, es wäre der Genickbruch", sagt ein SPD-Bundestagsabgeordneter in Berlin. In wichtigen Kernländern der Republik, in Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen, ist die Partei inzwischen auf einstellige Werte abgesackt.

Nicht nur in der Bundestagsfraktion schrillen alle Alarmglocken. Immer lauter wird auch die Kritik am SPD-Führungsdoppel. Es gelinge weder dem Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz noch der Fraktions- und Parteichefin Andrea Nahles, die SPD vor dem Ausbluten zu bewahren. In den SPD-Zirkeln der Berliner Republik werden erste Notfallpläne aus der Krise diskutiert. Das linke Lager verlangt immer offener einen Ausstieg aus der Großen Koalition nach der Europawahl. Im Koalitionsvertrag sei eine Halbzeit-Prüfung verabredet, diese Gelegenheit müsse man zur schieren Selbsterhaltung nutzen und die Regierung endlich verlassen.

Das bürgerliche Lager in der SPD setzt indes eher auf einen personellen Neubeginn. Der SPD mangele es nicht an Programm oder Regierungserfolgen. Es fehle ihr bloß an überzeugendem Führungspersonal; zumal die Ära Merkel nun zu Ende gehe, brauche es einen starken Kanzlerkandidaten. Insbesondere Nahles wird immer offener von einflussreichen Genossen kritisiert. Altbundeskanzler Gerhard Schröder hat nun im "Spiegel" dazu Klartext gesprochen. Schröder spricht Nahles die Eignung zur Führung der SPD ab, schon ihre Sprache, etwa das "Bätschi" in einer Bundestagsrede, sei daneben. "Das sind Amateurfehler", sagte Schröder. "Sie war damals zwar noch nicht Vorsitzende, aber so drückt man sich einfach nicht aus." Schröder warnt davor, Nahles zur Kanzlerkandidatin der SPD zu küren. Der Kandidat müsse über ökonomische Kompetenz verfügen, meint der Altkanzler. Auf die Frage, ob Nahles darüber verfüge, antwortete er: "Ich glaube, das würde nicht mal sie selbst von sich behaupten." Schröder spricht sich stattdessen dafür aus, die nächste Kanzlerkandidatur über eine Urwahl in der SPD zu klären. "Die SPD hat mit der Urwahl gute Erfahrungen gemacht", sagte er in dem Interview. "Eine Urwahl mobilisiert und schafft einen guten Background für den Wahlkampf."

Die fleischgewordene DNA der Partei


Schröder macht damit die Verfahrenstür für Sigmar Gabriel wieder weit auf. Mit jedem Monat schlechter Umfragen wird die Sehnsucht in der SPD nach einem Volkstribun größer. Gabriel ist zwar in der Partei nicht sonderlich beliebt, aber selbst seine Kritiker geben zu, dass er die SPD kraftvoll wiederbeleben könnte. Schröder formuliert das so: "Sigmar Gabriel ist vielleicht der begabteste Politiker, den wir in der SPD haben. Er ist nur in der Partei ein paar Leuten zu fest auf die Füße getreten." Tatsächlich gilt Gabriel, immerhin Ex-Vizekanzler, Ex-Parteichef und Ex-Außenminister, in der SPD als wortgewaltigster Mobilisierer.

Damit zeichnet sich in der SPD eine spiegelbildliche Lage ab wie in der CDU vor wenigen Wochen. Gabriel wird unter immer mehr Sozialdemokraten als ein Comeback-Retter angesehen, der die angeschlagene Volkspartei wiederbeleben und auf ihren Markenkern zurückführen könne. Wie Merz in der CDU verkörpert auch Gabriel für die SPD etwas Urgewaltiges, Eigentliches, die fleischgewordene DNA der Partei. Beide werden von den jeweiligen Parteifunktionären kritisch beäugt wie Ich-AGs ihrer Lager. Aber gerade die Kraft des Autonomen lässt sie zur Projektionsfläche für Mobilisierungen werden.

Sigmar Gabriel würde bei einer Urwahl sicher antreten, so wie Friedrich Merz auf den Regionalkonferenzen angetreten ist. Was die Hessenwahl für die CDU war (ein letztes Fanal vor einem zwingenden Neubeginn), dürfte für die SPD die Europawahl werden. Es droht eine Schmach, dann droht der Verlust der letzten Festung Bremen und schließlich die Splitterparteienexistenz in Sachsen. Martin Dulig, Landeschef der SPD in Sachsen, setzt bereits auf Gabriel im Wahlkampf. Dessen großer Vorteil sei, dass er "sowohl im direkten Gespräch als auch bei größeren Formaten Wirkung erzielt". Im Klartext heißt das: Gabriel kann noch Säle füllen, Nahles nicht mehr. "Wir können zurzeit viel gute Politik durchsetzen, aber trotzdem ändert sich stimmungsmäßig nichts." Einem wie Gabriel traut er zu, die Stimmung zu drehen.

Gabriel wiederholt typische Gabriel-Fehler


Ähnlich wie Merz, dem seine seinerzeitig kalte Entmachtung durch Angela Merkel später zum moralischen Bonus wurde, kann auch Gabriel auf einen solchen Rückenwind hoffen. Nahles und Scholz hatten Gabriel nach der desaströsen Bundestagswahl ziemlich rüde ins Abseits geschoben. Es wirkte wie die persönliche Rache durch Andrea Nahles, die lange unter Gabriel gelitten hatte und es ihm nun zurückgezahlt hat. Doch in der SPD kommt das nicht gut an. Vorstandsmitglied Boris Pistorius hat dazu nun ausgesprochen, was viele Parteimitglieder denken, und die Parteiführung für ihren Umgang mit den früheren Bundesvorsitzenden Sigmar Gabriel und Martin Schulz offen kritisiert. "Ich glaube, es befremdet die Menschen, wenn die SPD ihr Spitzenpersonal immer wieder hochjubelt und es dann quasi über Nacht fallen lässt", sagt der niedersächsische Innenminister und liest Nahles die Leviten: "Das gehört sich einfach nicht."

Insbesondere in den SPD-Schlüssel-Landesverbänden Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen findet die Idee eines Gabriel-Comebacks immer mehr Freunde. Für Nahles wird es unbequem, denn schon am kommenden Sonntag und Montag will die SPD-Spitze bei einer Klausurtagung in Berlin Wege aus der tiefen Krise suchen und auch die Personaldebatte wird kaum mehr zu unterdrücken sein. Gabriel könnte also einfach abwarten, bis seine Gelegenheit zum Comeback im Juni reif ist.

Doch Abwarten ist seinem Naturell fremd und der größte Feind seines Erfolges ist er immer noch selbst geblieben. Und so wiederholt er einen typischen Gabriel-Fehler, indem er Nahles selbst ungeschickt attackiert. Mit einem vergifteten Lob auf die Grundrenten-Pläne seiner Partei meldet sich Gabriel zum Wochenauftakt auf Twitter. Die Vorschläge von Sozialminister Hubertus Heil seien "fair, gerecht und überfällig", schreibt er angriffslustig. "Er bringt das Sozialministerium auf Kurs, das noch vor zwei Jahren die Grundrente gemeinsam mit dem Kanzleramt verhindert hatte. Gut so." Sozialministerin vor zwei Jahren war Nahles. Er tritt ihr rhetorisch also nach - und schadet damit seinen eigenen Chancen auf ein spektakuläres Comeback. Andererseits signalisiert er: Der Machtkampf ist eröffnet.


Quelle: n-tv.de


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