Von Deutschen fast vergessen: Als die Wehrmacht Leningrad aushungern wollte

  17 Februar 2019    Gelesen: 4059
Von Deutschen fast vergessen: Als die Wehrmacht Leningrad aushungern wollte

Ein neues Buch russischer Historiker beleuchtet eine in Deutschland fast vergessene tragische Episode des Zweiten Weltkriegs. Bei der „Blockade Leningrads“ belagerte die Wehrmacht die sowjetische Stadt. Das Buch über die leidvolle Evakuierung der Leningrader wurde kürzlich im Berliner Deutsch-Russischen Museum vorgestellt. Sputnik war vor Ort.

Leningrad, das heutige St. Petersburg, und dessen Bevölkerung standen von 1941 bis Ende Januar 1944 kurz vor dem Abgrund. Deutsche Truppen der „Heeresgruppe Nord“ und deren Verbündete rückten im Zweiten Weltkrieg immer weiter auf sowjetisches Gebiet vor. Anfang September 1941 hatten sie schließlich die russische Kulturstadt und Millionen-Metropole von allen Himmelsrichtungen her umstellt. Leningrad drohte auszuhungern. Der deutschen Offensive folgten sowjetische Verteidigungstaktikten, die Lage spitzte sich dramatisch zu. Historiker gehen heute von etwa 1,1 Millionen Todesopfern infolge der deutschen Blockade aus.

An dieses tragische Ereignis der schicksalsverwobenen deutsch-russischen Geschichte erinnerte am Dienstag das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst mit einer ganztägigen Fachtagung. An dieser nahmen deutsche und russische Geschichtsforscher teil, 75 Jahre nach der Leningrader Blockade. Auch um der deutschen Öffentlichkeit das hierzulande wenig bekannte, aber für Russland entscheidende Kriegsereignis näherzubringen.

Das russische Autoren-Duo Julia Kantor und Andrey Sorokin stellten dabei im Museum ihr aktuelles Buch mit neusten Erkenntnissen zur Evakuierung Leningrads vor. Diese begann im November 1941. Kantor, Professorin am „Institut für Allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften“ in St. Petersburg, sowie Dr. Sorokin vom „Russischen Archiv für Sozialgeschichte“ saßen neben den beiden deutschen Geschichts-Professoren Johannes Hürter vom Münchner „Institut für Zeitgeschichte“ (IfZ) und Jörg Ganzenmüller von der Universität Jena.

„Arbeiter verlassen Leningrad“

„In dem Buch geht es um die Evakuierung Leningrads“, erklärte Jörg Morré, Direktor des Berliner Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst, im Sputnik-Interview vor Ort.

„Pobratimy“ laute der russische Name des Buches. „Brüderlich, solidarisch verbunden: So kann man das etwas holprig ins Deutsche übersetzen.“ Die Regionen Russlands, die Evakuierte aus Leningrad aufgenommen haben, werden laut Morré in dem Buch näher erläutert. „Manche sehr weit weg wie der Ural und Sibirien. Manche Regionen auch sehr dicht an Leningrad gelegen.“ Die Evakuierung sei aus verschiedenen Gründen organisiert worden. „Sicherlich auch im Mischungsverhältnis der Verlagerung von Produktionsstätten. Also Arbeiter, die mit ihren Maschinen die Stadt verlassen oder eben rein aus humanitären Gründen.“

Frauen und Kinder in Lebensgefahr

„Wir sprechen über betroffene Frauen, Männer und Kinder, die von der deutschen Belagerung Leningrads betroffen waren“, sagte die russische Historikerin Kantor. „Für Mütter und deren Kinder war damals die Ausreise, also die Evakuierung aus der Stadt, mitunter die einzige Überlebenschance. Wenn auch die Evakuierung selbst lebensgefährlich war.“

Es habe auch „körperliche Kontakte zwischen Soldaten und russischen Frauen gegeben, daraus entstanden Kinder“. Die Russin verwies damit auf große soziale Herausforderungen, die auch lange nach Kriegsende die sowjetische Gesellschaft beschäftigen sollten. Sie betonte Traumata von Müttern vor und nach der Evakuierung. Sie erwähnte Mütter, die ihre Säuglinge nicht besser versorgen konnten und den Tod des eigenen Kindes miterleben mussten, was sie sich teilweise ihr Leben lang vorwarfen. Es sei eine bittere Zeit damals gewesen.

Eine Stadt im Ausnahmezustand

„Die Menschen, die arbeiten oder kämpfen konnten – also überlebensfähig waren – mussten in Leningrad bleiben. Manche wollten bleiben, mussten aber evakuiert werden. Andere wollten evakuiert werden, mussten aber bleiben.“  Aber die Leute wurden eben gebraucht, um das Lebenswichtigste für die Stadtbewohner trotz der Belagerung bereitzustellen. Nicht nur Männer mit militärischer Erfahrung, sondern auch fleißige Arbeiter wurden gebraucht. „Im Winter ‘41/‘42 wurden weiterhin Lebensmittel in Leningrader Gewächshäusern produziert. Es wurde trotz der Belagerung weiter Landwirtschaft betrieben.“

Sie gab einen Einblick in die Quellenlage. „Es wurde in der Hektik und den Kriegswirren der damaligen Zeit nicht sauber dokumentiert.“ Für das Buch bemühte die russische Forscherin nicht nur Archive in Leningrad, sondern auch historische Dokumente aus Archiven und Chroniken nahegelegener Dörfer und Städte. „Diese Akten liegen dort herum und warten sozusagen nur auf die Historiker.“ Dazu ergänzte ihr Kollege Sorokin: „Die Menschen in den umliegenden Städten und Dörfern litten meist noch härter als die Menschen in Leningrad selbst, da Versorgungslinien gekappt wurden und vieles mehr.“

Eine Stadt kämpft

Aus Briefen konnte der russische Historiker Einstellungen und Gedanken der damaligen Leningrader, umstellt von den deutschen Truppen, entnehmen.

„Hast du noch den Flammenwerfer, den ich dir mal geliehen hatte?“, schrieb ein Stadtbewohner damals einem Freund per Brief. „Daraus können wir ableiten“, so Sorokin, „wie ernst den Menschen die Verteidigung ihrer Stadt war.“

Buch beleuchtet Schicksal der Leningrader

„Ich bin sehr beeindruckt von diesem Buch“, erklärte der Münchner Historiker Hürter vor Ort im Sputnik-Interview. „Weil es ein Thema behandelt, das bisher in der Forschung völlig unterbelichtet ist. Nämlich das Schicksal der Evakuierten aus Leningrad heraus.“ Das Buch spreche einen Themenbereich an, der „für den gesamten Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion charakteristisch ist: Das Thema der großen Verschiebungen von Menschen, von Bevölkerungsgruppen. Das ist nicht nur für Leningrad wichtig, sondern für die gesamte besetzte Sowjetunion, aber auch für das sowjetische Hinterland.“ Deshalb sei das Buch entscheidend und wichtig.

„Es gab bisher vor allem deutsche Historiker, die sich mit der Wehrmacht und der Besatzungsherrschaft der Wehrmacht (in der Sowjetunion, Anm. d. Red.) beschäftigt haben und russische Historiker, die sich mit der Geschichte der Roten Armee und der des deutsch-sowjetischen Krieges aus russischer bzw. sowjetischer Sicht beschäftigt haben.“ Wichtig sei in dieser Hinsicht das Buch des Kollegen Ganzenmüller, betonte er. Dessen Buch über „Das belagerte Leningrad“ (2005) sei ein herausragendes Standardwerk zum Thema. „Herr Ganzenmüller hat sowohl russische, sowjetische als auch deutsche Dokumente ausgewertet.“ Russische und deutsche Historiker und Forschungseinrichtungen sollten nun versuchen, „diese Erkenntnisse zu integrieren. Es gibt auch noch einige andere Studien, die in diese Richtung gehen, aber insgesamt noch viel zu wenige.“

„Deutsche und Russen müssen stärker zusammenarbeiten“

Hürter forderte für die  Zukunft eine „Zusammenführung dieser beiden großen Forschungsströmungen. Man muss insgesamt die russische und die deutsche Forschung noch viel enger zusammenführen. Dafür sind natürlich auch Transferleistungen nötig.“ Etwa russische Studien zum Thema ins Deutsche zu übersetzen und umgekehrt, um sie beiden Wissenschaftsbetrieben zugänglich zu machen. Er plädierte für eine „integrierte Geschichtsschreibung des deutsch-sowjetischen Krieges.“ Wichtig sei für die internationale Forschung zum Zweiten Weltkrieg, „sich in Zukunft viel stärker auf die russischen Archive zu stützen. Denn die deutschen Akten sind zum größten und wichtigen Teil schon bekannt. Schon seit vielen Jahren.“ Das Buch kann dabei sicherlich zum künftigen Wegweiser, nicht nur für deutsche und russische Geschichtswissenschaftler, werden.

Sokorin betonte, solche wissenschaftlichen Fachtagungen fänden in Russland „meist nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ statt. Er begrüßte und lobte die Veranstaltung im Berliner Museum ausdrücklich und bedankte sich „bei den deutschen Archiven, für die gute Zusammenarbeit“. Der russische Wissenschaftler forscht selbst seit langer Zeit intensiv zur Blockade von Leningrad, so studierte er häufig schon Akten im „Stalin-Archiv“ und im Archiv des „Staatskomitees für Verteidigung“. Das Staatskomitee war zu Kriegszeiten das politisch entscheidende Gremium der UdSSR.

Kritischer Blick auf deutsche Vergangenheit

Das Buch könne definitiv dazu beitragen, dunkle Flecken in der Geschichtsforschung zur Blockade von Leningrad zu erhellen, betonte Museumsdirektor Morré.

„Der heutige Tag hat auch gezeigt, wenn man kritisch die eigene Geschichte befragt, kommt man in der Aufarbeitung und Erinnerung viel weiter, als wenn man das alles nur beschönigt“, betonte er.

An einer besseren Kommunikation zwischen beiden Forschergemeinden könne gearbeitet werden. Dazu diene auch ein solches Colloquium wie die am Dienstagabend im Deutsch-Russischen Museum zu Ende gegangene Fachtagung. „Wir haben alle gewusst, wovon wir reden. Jetzt sollten alle Forscher das mit nach Hause nehmen und in ihre Wirkungskreise einfließen lassen.“

Quelle : sputnik.de


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