In Deutschland herrscht familienpolitisches Chaos

  28 Februar 2019    Gelesen: 866
  In Deutschland herrscht familienpolitisches Chaos

Kreative Ideen sind in der Familienpolitik jahrzehntelang nicht entwickelt worden. Der Staat macht es sich zu leicht. Ein Essay.

Familien sind eine große Wählergruppe. Wer ihnen Zuwendungen verspricht, erhöht seine Chancen auf (Wieder-)Wahl. Dabei ist es ganz egal, wer gerade regierte: Sowohl Christ- als auch Sozialdemokraten haben Eltern vor allem finanziell unter die Arme gegriffen. Wenn wir uns die niedrige Geburtenrate von 1,59 Kindern pro Frau ansehen, dann war die Sozialstaatslogik „immer mehr Geld“ nicht sehr erfolgreich. Dabei können wir dem Staat nicht vorwerfen, knauserig zu sein. Im Gegenteil: In den Ausbau der Kinderbetreuung wird viel Geld investiert, und auch das Elterngeld Plus ist nicht umsonst.

Aus dem Bundeshaushalt für das Jahr 2018 floss jeder zweite Euro in den Sozialbereich, insgesamt mehr als 170 Milliarden Euro. Mehr als 94 Milliarden Euro gehen davon allerdings als Zuschuss des Bundes an die Rentenversicherung. Und was bekommen Familien? Sehr lange wusste der Staat überhaupt nicht, wie viel Geld er genau für Familien ausgibt. Freibetrag für Alleinerziehende, Waisengeld und Familienbonus bei der Riester-Rente summieren sich zwar, aber selbst das Familienministerium hatte lange keinen Überblick, welche Subventionen und Leistungen für Familien existieren, und wer davon profitiert.

Bei der Vielzahl an Geldleistungen, Realtransfers und Erleichterungen im Steuer- und Sozialversicherungssystem blickten selbst Experten nicht mehr durch. Deshalb gab die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen 2008, zusammen mit dem Finanzministerium, eine Evaluation aller familienpolitischen Leistungen in Auftrag.

Mehr als 150 ehe- und familienbezogene Einzelleistungen
70 Wissenschaftler, begleitet durch ein Referat des Ministeriums, definierten in einem ersten Schritt vier Ziele, nach denen sich die deutsche Familienpolitik ausrichten sollte: die wirtschaftliche Stabilität von Familien, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Förderung von Kindern und die Steigerung der Geburtenrate. Anschließend schauten sie sich alle familienpolitischen Leistungen und ihre Wirkung genau an. Dabei arbeiteten sie mit den Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), für das mehr als 12.000 Haushalte jährlich befragt werden.

So konnten sie aufzeigen, wie umfangreich Familien in Deutschland gefördert werden und welche Auswirkungen sich daraus für den Staatshaushalt, die Sozialversicherungen und den Arbeitsmarkt ergeben. Zum ersten Mal wurde die Kosten-Nutzen-Frage gestellt: Wem nutzen der Kinderfreibetrag und das Elterngeld? Wer profitiert vom Ausbau der Kinderbetreuung? Nach vier Jahren war der rund 400 Seiten starke Bericht fertig.

Allein auf der Ebene des Bundes und der Sozialversicherungen wurden mehr als 150 ehe- und familienbezogene Einzelleistungen (ob Kindergeld, Unterhaltsvorschuss oder steuerliche Entlastungsbeiträge) gezählt – mit einem Gesamtvolumen von mehr als 200 Milliarden Euro jährlich. Das klingt erst einmal nach viel. Doch wenn wir uns ansehen, was sich dahinter verbirgt, schrumpft der riesige Geldtopf schnell auf die Größe eines Spielzeugeimers zusammen.

Die Experten haben nämlich wirklich alles, was irgendwie nach „Kind“ oder „Familie“ klingt, in den Topf geworfen. Was aber haben junge Familien von den 38 Milliarden Euro, die in die Witwen- und Witwerrente fließen? Und was hat die beitragsfreie Mitversicherung von Ehepartnern, die nicht erwerbstätig sind und keine Kinder erziehen, mit Familienförderung zu tun? Dasselbe gilt für das „Ehegattensplitting“, das 20 Milliarden Euro jährlich kostet: Ob in den Ehen, die vom Steuervorteil profitieren, Kinder leben, spielt keine Rolle. Selbst die „familienbezogenen Leistungen“ sind zum Teil gar keine „Leistungen“ für Familien.

Von den 123 Milliarden Euro gehören nämlich rund 52 Milliarden Euro zum Familienleistungsausgleich – und der ist keine Nettigkeit des Sozialstaats, sondern verfassungsrechtlich geboten. Ein Teil des Kindergelds dient zum Beispiel dazu, das Existenzminimum steuerfrei zu stellen. Das ist nicht nett. Das ist selbstverständlich. Und so erklärt sich auch, dass der Staat alle Familien nur auf den ersten Blick gleichermaßen unterstützt. In Wirklichkeit profitieren von Elterngeld, Ehegattensplitting und Kindergeld nicht alle Familien. Vor allem Alleinerziehende scheint die Politik häufig zu übersehen.

Wenn wir uns jetzt noch ansehen, wo das Geld für Familien eigentlich herkommt, dann schrumpfen die 200 Milliarden Euro, mit denen der Staat Familien unterstützt, noch weiter zusammen. Denn einen Großteil der Leistungen, die sie erhalten, finanzieren Familien selbst. 40 Prozent des Geldes kommt aus den Sozialbeiträgen. 30 Prozent werden über Verbrauchssteuern finanziert. Mit jeder Packung Windeln, mit jedem Breiglas, mit jedem Kinderspielzeug, das Familien kaufen, fließt Geld an den Staat, das über Umwege wieder bei den Familien landet. Er nimmt Familien etwas weg, um es dann wieder an sie zu verteilen.

tagesspiegel


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