Über Nacht gerät Chemnitz im Sommer 2018 in die bundesweiten Schlagzeilen und auch über die deutschen Grenzen hinweg wird über das berichtet, was sich in der Stadt abspielt. Ein 35-Jähriger wird am Rande eines Stadtfestes erstochen, verblutet noch am Tatort. Als Verdächtige werden kurz darauf Migranten ermittelt. In die Fassungslosigkeit über die rohe Gewalt auf offener Straße mischt sich schnell Empörung und Wut über Einwanderer im Allgemeinen. Es kommt zu spontanen ausländerfeindlichen Kundgebungen, Übergriffen auf anders Aussehende und an der Frage, ob es auch Hetzjagden gegeben hat, arbeitet sich die Republik über Wochen ab und endet schließlich die Karriere eines Behördenchefs.
Es gibt linken Gegenprotest, ein gewaltiges Konzert wird organisiert, bei dem sich nicht wenige Chemnitzer über die dort vorgetragenen Texte wundern. Wie unter einem Brennglas konzentrierte sich der aufgeheizte gesellschaftliche Diskurs um Rechts und Links im Spätsommer des vergangenen Jahres in der Stadt.
Nun wird der Ursprung der Ereignisse aufgearbeitet. Ab morgen muss sich der 23-jährige Syrer Alaa S. vor Gericht verantworten. Die Anklage lautet auf gemeinschaftlichen Totschlag des 35-jährigen Daniel H. Neben der tödlichen Attacke soll auch ein zweiter Angriff verhandelt werden. Ein weiterer Mann wurde am Tatort in den Rücken gestochen, überlebte schwer verletzt. Das zweite Opfer tritt als Nebenkläger auf, ebenso die Mutter des getöteten Daniel H. und seine Schwester. Bisher wurden 56 Zeugen geladen, zwei medizinische Sachverständige sollen helfen, das Geschehene aufzuklären.
Der zweite Verdächtige ist noch auf der Flucht
Und es gibt etliche offene Fragen. Die wohl drängendste lautet: Wo ist Farhad Ahmad? Er ist der zweite Verdächtige in dem Fall und weiterhin auf der Flucht. Nach dem Tod von Daniel H. könnte es zu einer verheerenden Ermittlungspanne gekommen sein. Wie die "Tagesschau" unter Berufung auf Ermittlerkreise berichtet, wurden direkt nach dem Angriff zwei Verdächtige festgenommen. Der nun angeklagte 23-Jährige und ein weiterer Mann, Yousif A. Der Verdacht gegen A. erhärtete sich nicht, er wurde inzwischen wieder freigelassen.
Er sagte dem Bericht zufolge jedoch aus, sein Bekannter Farhad Ahmad sei an der Auseinandersetzung beteiligt gewesen. Die Polizei ging den Hinweisen demnach jedoch erst fünf Tage später nach, zwei weitere Tage später wurde ein Haftbefehl gegen ihn beantragt. Die Spur von Farhad Ahmad hatte sich zu dem Zeitpunkt bereits verloren. Er wird inzwischen per internationalem Haftbefehl gesucht. Wie die "Süddeutsche Zeitung" berichtet, hat die deutsche Bundesregierung die Sicherheitsbehörden im Irak um Hilfe gebeten. Offenbar könnte er sich in seine Heimat abgesetzt haben.
Farhad Ahmed könnte für den Prozess jedoch von zentraler Bedeutung sein. Denn Alaa S., der syrische Beschuldigte, beteuert bis heute seine Unschuld. Sagt, er sei gar nicht unmittelbar am Tatort gewesen. Kurz nach der tödlichen Attacke wurde in der Nähe des Tatorts ein Messer mit Blutspuren von Daniel H. gefunden. Spuren von S. konnten die Behörden daran jedoch nicht feststellen. Belastet wird S. vor allem von einem Zeugen, der ihn bei "stichartigen Bewegungen" gesehen haben will. Ob Alaa S. dabei jedoch ein Messer in der Hand hatte, konnte der Zeuge nicht bestätigen.
Keine Anhaltspunkte für fehlende Sicherheit
Andere Zeugen, die am Tatort waren, erkannten S. auf Lichtbildern nicht wieder. Und auch die Vorgeschichte von Farhad Ahmed könnte darauf hindeuten, dass der Prozess ohne ihn unvollständig verläuft: Er galt offenbar als aggressiv und war mehrfach wegen Gewalttaten mit Messern aufgefallen. Polizeibekannt war er außerdem wegen zahlreicher anderer Delikte.
Verhandelt wird der Prozess am Oberlandesgericht in Dresden. Ein Saal, der dem öffentlichen Interesse an dem Verfahren und den Sicherheitsbedenken gerecht wird, war in Chemnitz offenbar nicht verfügbar. Das OLG der sächsischen Landeshauptstadt hatte 2017 für die Verhandlungen gegen die rechte Terrororganisation "Gruppe Freital" einen Sicherheitssaal für mehr als fünf Millionen Euro errichten lassen, in dem der Prozess stattfinden soll. Er bietet Platz für 150 Zuschauer, zudem sind Zuschauerraum und Verhandlungssaal durch eine 2,70 Meter hohe Sicherheitsglaswand voneinander getrennt.
Einer der Verteidiger von Alaa S. hatte mit Verweis auf Sicherheitsbedenken in der vergangenen Woche gefordert, außerhalb Sachsens zu verhandeln. Der Bundesgerichtshof kam jedoch zu dem Schluss, dass es "nicht die geringsten Anhaltspunkte" gebe, dass die Richter "unter dem Druck der Straße" nicht angstfrei urteilen würden.
Quelle: n-tv.de
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