Diese Stadt ist ein Phänomen. Sie wächst und wächst, zieht Menschen aus aller Welt an, die in Berlin leben wollen. Eine Weltstadt - mit inzwischen mehr als 3,7 Millionen Einwohnern.
Umso irritierender ist es, welche Entwicklung hier gleichzeitig die beiden Volksparteien nehmen. "Die freiwillige Verzwergung, der Rückzug auf die Scholle, die Selbstgenügsamkeit" konstatierte mit Blick auf die CDU gerade der Berliner "Tagesspiegel", die SPD verliere sich "auf der Suche nach sich selbst", stellte die "Berliner Zeitung" fest - und titelte zum Zustand beider Parteien: "Vereint in Schwäche".
Dabei wäre so viel zu tun. Diese Stadt bietet so viele Profilierungsmöglichkeiten für anpackende Politiker: Kitakrise, Schulkrise, Wohnungskrise, Verkehrswende. In Berlin aber wird oft versprochen, selten gemacht. Eine Stadt boxt unter ihrer Gewichtsklasse.
Sinnbildlich dafür steht die SPD. Dabei stellen die Sozialdemokraten mit Michael Müller den Regierenden Bürgermeister in Berlin und bestimmen an der Spitze des rot-rot-grünen Senats maßgeblich die Politik der Bundeshauptstadt. Aber das tut sie so wenig überzeugend, dass die Sozialdemokraten in aktuellen Umfragen nur noch Platz vier belegen - noch hinter der CDU. Die Christdemokraten sitzen in der Opposition, könnten von dort aus also den R2G-Senat genüsslich vor sich hertreiben. Stattdessen beschäftigt sich die CDU lieber mit sich selbst: Gerade hat man die Landesvorsitzende Monika Grütters zum Rückzug getrieben.
Das Problem der Berliner SPD liegt vor allem darin, dass es ihr an Führung mangelt. Der Regierende Bürgermeister und Landeschef Müller gilt weder in der rot-rot-grünen Koalition noch in seiner eigenen Partei als durchsetzungsstark. Das zeigte sich erst am Samstag wieder beim Landesparteitag der Genossen. Müller versuchte mit Attacken auf die Koalitionspartner die Reihen zu schließen - und bat die Delegierten um Geschlossenheit: "Lasst uns doch erst einmal mit uns selbst ein Bündnis schließen", sagte er.
Doch Geschlossenheit und Berliner SPD? Das passt nicht zusammen. Seit 18 Jahren stellen die Sozialdemokraten den Regierenden Bürgermeister, Müller setzte sich 2014 in einem Machtkampf gegen Fraktionschef Raed Saleh und den damaligen Parteichef Jan Stöß durch. Doch obwohl Müller 2016 auch den Landesvorsitz übernahm, blieb seine Autorität überschaubar. Er pflegt einen zurückhaltenden Führungsstil, selbst ihm wohlgesonnene Genossen klagen, dass dadurch oft nicht klar werde, wofür die SPD eigentlich stehe.
In der Bundespartei sorgen die Berliner Parteifreunde regelmäßig für Entsetzen. Aktuelles Beispiel: der Beschluss der Landes-SPD, der Bundeswehr Werbung an Berliner Schulen zu verbieten. "Für Töten und Sterben" mache man keine Werbung, heißt es in dem Parteitagsbeschluss. "Wer so einen Unsinn beschließt, sollte sich selbst von unseren Schulen fernhalten", schrieb Bundestagsvizepräsident und Ex-Fraktionschef Thomas Oppermann bei Twitter.
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil machte klar, dass sich die Bundespartei von dem Berliner Beschluss distanziert. Im Präsidium habe man deutlich gemacht, dass die Schulen für die Bundeswehr offen bleiben sollten. Er sei den Jugendoffizieren für ihre "wertvolle und durchaus kontroverse Arbeit" dankbar, sie würden keine Werbung machen.
In der Partei wird derzeit nicht damit gerechnet, dass die SPD Müller 2021 noch einmal als Spitzenkandidaten ins Rennen schickt. Offen ist, ob der 54-Jährige schon vorher Platz macht. Als aussichtsreichste Kandidaten für die Nachfolge gelten Innensenator Andreas Geisel und Bundesfamilienministerin Franziska Giffey. Die ehemalige Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln gilt in der kriselnden Partei als Hoffnungsträgerin. Einziges Manko: Derzeit überprüft die Freie Universität Berlin ihre Dissertation aufgrund eines Plagiatsverdachts.
spiegel
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