Die Zahlen sind alarmierend. Mit weltweit 112.000 Erkrankten in den ersten drei Monaten dieses Jahres ist die Zahl der Masern-Fälle auf das Vierfache des Vorjahreswertes hochgeschnellt. Und auch in Europa infizierten sich 2018 so viele wie seit zehn Jahren nicht mehr. Die hochgefährliche Viruserkrankung breitet sich immer stärker aus.
Als Grund dafür nennt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht nur den Umstand, dass die Impfteams in schwer zugänglichen Gebieten oder Konfliktregionen nicht an die Menschen herankämen. Dank „gezielter Desinformation“ habe auch das Vertrauen in die Immunisierung abgenommen.
Heißt: Es gäbe die Möglichkeit, deutlich mehr Menschen zu schützen. Doch viele sehen in der Impfung eine größere Gefahr als in dem oft todbringenden Virus. Und in dieser Hinsicht tragen auch die Deutschen Mitschuld daran, dass das erklärte Ziel, die Masern bis zum Jahr 2020 ausgerottet zu haben, weniger denn je erreichbar ist. Um die gefährliche Erkrankung besiegen zu können, müssten hierzulande mindestens 95 Prozent der Bürger gegen Masern geimpft sein.
Tatsächlich sind es inzwischen knapp 93 Prozent der Schulanfänger. Das Problem ist aber, dass von den 18- bis 44-Jährigen weniger als 60 Prozent einen Impfschutz haben. Dass viele Kinder zu spät geimpft werden. Und dass einige hochmisstrauische Eltern im Vertrauen auf genügend andere Geimpfte die körperliche Unversehrtheit ihrer eigenen Kinder bedenkenlos über den Schutz aller in der Gesellschaft stellen.
Deshalb werden die Rufe nach einer Impfpflicht in Deutschland immer lauter.Und die Pläne konkreter: Gesundheitsminister Jens Spahn hat angekündigt, dazu im Mai einen Vorschlag vorzulegen.
Wie weit der CDU-Politiker gehen will, ist zwar noch offen. Doch Spahn betonte schon mal, dass er die Debatte um eine Impfpflicht ausdrücklich begrüße – weil aus seiner Sicht „zu viele Eltern und leider auch manche Ärzte diese Infektion zu sehr auf die leichte Schulter nehmen“. Der Minister könne sich zumindest vorstellen, „den Zugang zu Gemeinschaftseinrichtungen wie Kitas oder Schulen an die Masern-Impfung zu koppeln", heißt es in seinem Ressort.
In der CDU stoßen Spahns Pläne auf Beifall. Die gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion, Karin Maag, begründete ihr Plädoyer für eine Impfpflicht damit, dass Impfgegner das Gesundheitsrisiko für die Allgemeinheit, vergrößerten. Und auch den Koalitionspartner hätte der Minister geschlossen hinter sich. SPD-Chefin Andrea Nahles findet es „richtig, bei sehr ansteckenden Krankheiten wie Masern eine Impfpflicht einzuführen“. Schließlich gehe es dabei „nicht nur um die Gesundheit der Kinder, sondern auch um den Schutz älterer Menschen mit geschwächtem Immunsystem vor Ansteckung“, sagt sie.
Familienministerin Franziska Giffey bezeichnet „staatliches Handeln“ ebenfalls als angemessen, „wenn das Risiko, andere Kinder in Kindergärten, Schulen oder in anderen Einrichtungen zu gefährden, nicht anders in den Griff zu bekommen ist“. Und Gesundheitsexperte Karl Lauterbach denkt schon über Sanktionen nach, um den für nötig erachteten Zwang auch durchzusetzen. Es könne nicht sein, twitterte er, „dass eine kleine Gruppe von Egoisten oder von Eltern mit dem Anspruch, es besser zu wissen als Ärzte oder Experten, die Ausrottung blocken“.
Auch Linken-Chef Bernd Riexinger fordert eine Masern-Impfpflicht als Bedingung für Kita-Besuche. Und selbst die FDP sieht darin keinen Widerspruch zum von ihr gepredigten Liberalismus. In Schleswig-Holstein sprach sich ihr Gesundheitsexperte Dennys Bornhöft rundheraus für eine Impfpflicht aus. Und im Berliner Abgeordnetenhaus verlangte die FDP, dass empfohlene Impfungen künftig bei den festgeschriebenen Vorsorgeuntersuchungen für Kinder nachzuweisen seien.
Die einzigen, die sich vehement gegen eine Impfpflicht sträuben, sind die Grünen. Zwang könne das Gegenteil des Erwünschten bewirken, warnt deren Fraktionsexpertin Kordula Schulz-Asche. Zum einen könnten dadurch die Quoten für andere empfohlene Impfungen sinken, zum andern würden so womöglich auch Menschen abgeschreckt, die bislang gar keine grundsätzlichen Vorbehalte hätten. Außerdem erreiche man mit einer Impfpflicht für Kinder nicht die eigentliche Problemgruppe der jungen Erwachsenen.
Das Problem für die Grünen ist freilich noch ein ganz anderes: Wie keine andere Partei sind sie mit einem Milieu verbandelt, in dem es besonders viele Impfkritiker gibt. Anthroposophen, Freunde von Naturheilkunde und Homöopathie: Bei einem Plädoyer für eine Impfpflicht wäre mit massivem Widerstand der Basis zu rechnen. Schulz-Asche müht sich, das zu relativieren. Man messe dem Selbstbestimmungsrecht der Bürger eben höheren Wert bei als andere, sagt sie.
Die Rücksichtnahme auf die Wählerklientel hat auch Auswirkungen auf die Bundesländer. Während etwa das rot-rote Brandenburg und das schwarz-gelb regierte Nordrhein-Westfalen Druck auf eine Impfpflicht machen, ist solcher Zwang für Hessens grünen Gesundheitsminister Kai Klose „im Moment nicht verhältnismäßig und auch nicht notwendig“.
Für Baden-Württemberg lässt sich letzteres schwer behaupten. Hier verfügten Ende 2017 gerade mal 89,8 Prozent der Zweijährigen über eine Masern-Erstimpfung. Bundesweit ist das der letzte Platz. Und das zwingt dann auch Grünen-Politiker, aus der Parteilinie auszuscheren.
"Eine Impfpflicht darf kein Tabu sein“, verkündete der Stuttgarter Gesundheitsminister Manne Lucha am Montag. „Aufgrund der unbefriedigenden, stark verbesserungsbedürftigen Masern-Impfquote bei uns im Land“ prüfe man nun intensiv, ob eine solche Vorgabe für den Besuch von Kitas und Schulen nicht doch sinnvoll sein könne. Im Deutschlandfunk legte er einen Tag später sogar noch eins drauf. Dort, wo sich Kinder in Gemeinschaftseinrichtungen aufhielten, sollte die Impfpflicht auch für Erwachsene gelten, verlangte der Grünen-Politiker. Kollektiver Gesundheitsschutz stehe für ihn vor individuellem Freiheitsrecht.
tagesspiegel
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