Man habe noch nie auf der Welt Tourismus in den Sperrzonen nach Nuklearkatastrophen organisiert – weder in Pennsylvanien (USA) nach der ersten großen Havarie im Kernkraftwerk Three Mile Island 1979 noch im Kernkraftwerk Fukushimanoch in anderen Kernkraftwerken, merkte Natalia Schandala an, stellvertretende Generaldirektorin des medizinischen biophysikalischen Burnasjan-Zentrums.
„Wenn die Ukraine das Gesetz verabschiedet hat, das organisierten Tourismus in der Sperrzone von Tschernobyl erlaubt, muss die ukrainische Regierung auch die Verantwortung für die Strahlenschutzsicherheit der Besucher tragen. Damit der Reiseverkehr ungefährlich ist, muss man bestimmte Vorschriften für den Besuch der kontaminierten Region erarbeiten: Das betrifft das Verhalten der Besucher, festgelegte Reiserouten und zeitliche Abstände für den Besuch der Sperrzone. Obwohl sich die Gamma-Strahlungsdosisleistung fast normalisiert hat, gibt es immer noch Abschnitte mit lokaler Strahlungsverunreinigung. Diese Abschnitte müssen auf der Karte gekennzeichnet werden, damit keine Wanderstrecken durch diese Orte verlaufen“, betont die Wissenschaftlerin auf einer Pressekonferenz in Moskau.
Laut Natalia Schandala stellen verwahrloste baufällige Gebäude in der Sperrzone von Tschernobyl eine große Gefahr dar. Die Stadt Pripjat zählte 50.000 Einwohner und die stadtähnliche Ortschaft Tschernobyl 12.000 Einwohner. Es gibt dort viele sechs- und neunstöckige Häuser, die jederzeit einstürzen können, weil niemand sie beaufsichtigt. Immer läuft man Gefahr, dass irgendein Tourist von der Wanderroute abweicht und unter die Trümmer gelangen könnte.
Die Expertin wies darauf hin, dass es sinnvoll wäre, ein Dokument zu erarbeiten, das die Wanderrouten und die Strahlenbelastung ausführlich beschreiben würde. Dazu müsse man die Dynamik der Strahlungsverhältnisse verfolgen, weil natürliche und künstliche Radionuklide in die Umgebung gelangen würden.
Die Mitarbeiter des Burnasjan-Zentrums (ehem. Institut für Biophysik) haben noch zu Sowjetzeiten die an Tschernobyl anliegenden Gebiete nach der Reaktorkatastrophe untersucht. Weißrussland hat am meisten gelitten: 22 Prozent seines Territoriums waren der radioaktiven Kontamination ausgesetzt, in der Ukraine sind das zehn Prozent, in Russland zweieinhalb Prozent. 33 Jahre nach der Nuklearkatastrophe im Kernkraftwerk in Tschernobyl haben sich viele Radionuklide, darunter Cäsium und Strontium, verringert. Alle kurzlebigen Nuklide – Zerium, Zirkonium, Niobium und das berühmte radioaktive Jod-Isotop Jod-131 - sind bereits zerfallen und es gibt keine Spuren von ihnen in der infizierten Zone mehr. Es bestehe aber das Problem mit Plutonium, dessen Zerfallsperiode eintausend Jahre betrage, sagte Natalia Schandala weiter.
„Laut einer Bewertung der Weltgesundheitsorganisation und des wissenschaftlichen Beirats der Vereinten Nationen für die Wirkung der Atomstrahlen ist die Mehrheit der Menschen nach der Tschernobyl-Katastrophe an Schilddrüsenkrebs erkrankt. Kinder unter 15 Jahren waren besonders betroffen. Das heutige Risiko ist natürlich nicht so groß wie im ersten Jahrzehnt nach dem Reaktorunglück. Man darf aber nicht vergessen, dass es unter der Schutzhülle über dem havarierten AKW Tschernobyl Submikron-Partikel gibt. Sie werden von einer persönlichen Schutzausrüstung nicht aufgefangen und können sich auf natürliche Weise mit Durchzug bewegen. Außerdem gibt es Anlagen für die Staubunterdrückung in der Schutzhülle selbst, die einmal im Monat eingeschaltet werden. Dieser Feinstaub stellt auch eine Gefahr dar.“
Zu den möglichen Risiken gehören laut der Strahlungsspezialistin auch Betonspeicher für verbrauchten Kernbrennstoff. Sie enthalten eine große Anzahl von radioaktiven Stoffen. Man dürfe auch die Erdbeben nicht außer Acht lassen, weil die Sperrzone von Tschernobyl sich in einer Bruchzone der Erdrinde befindet, sowie Waldbrände. Radionuklide würden im Falle eines solchen Waldbrandes aufgewirbelt und weit davongeweht.
Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl von 1986 ist immer noch heißumstritten. Neue Filme helfen, das Interesse für das Thema aufrechtzuerhalten, und locken Abenteuerlustige an. Mitte Juli hat die ukrainische Regierung Tschernobyl für den Tourismus freigegeben. Nun können Menschen aus aller Welt den Ort besuchen, wo der größte Reaktorunfall des letzten Jahrhunderts passiert ist. Wie sicher ist heute Tschernobyl für Touristen? Wissenschaftler zählen ihre Gründe auf, die Entscheidung trifft aber jeder selbst.
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