Als im Mai 2019 das teuerste Medikament der Welt, Zolgensma, in den USA die Marktzulassung von der FDA erhält, ist Zente Tóth 15 Monate alt. Der kleine ungarische Junge kann kaum seinen eigenen Kopf hochhalten, nicht aus eigener Kraft Stuhl abführen und braucht technische Hilfe beim Atmen. Zente leidet an spinaler Muskelatrophie (SMA), einer seltenen und als unheilbar geltenden Erbkrankheit, die das Muskelwachstum einschränkt und teilweise ganz blockiert. Eines von 10.000 Kindern ist betroffen, fast immer führt die Krankheit in den ersten zwei bis drei Lebensjahren zum Tod durch Atemversagen.
Das Glück nach Zentes komplizierter aber schneller Geburt wird für die junge Familie bald eine Leidenszeit voll Ungewissheit. Allergische Reaktionen auf die Milch seiner Mutter Krisztina, erst gar kein und dann blutiger Stuhl, sowie kaum motorische Entwicklung ziehen unzählige Arztbesuche nach sich. Milchersatz wird beschafft, harte Arbeit in physiotherapeutischer Betreuung bringt vielversprechende Fortschritte. Doch eine Diagnose gibt es noch nicht.
Ärzte warnen, nicht im Internet zu suchen
"Das Warten ist das Schlimmste", schreibt Zentes Mutter später. In bangen Wochen zwischen Laboruntersuchungen und deren Ergebnissen durchforstet Krisztina Tóth das Internet, obwohl die Ärzte sie eindringlich davor warnen. Die spärlichen Informationen nähren den Verdacht, bis ein Bluttest ihre Befürchtungen bestätigen: Zente hat SMA. Um anderen Eltern beizustehen und die Informationen zu teilen, die sie nicht bekam, beginnt Krisztina im Oktober 2018, Zentes Geschichte auf Facebook zu erzählen.
Zentes spinale Muskelatrophie entstand, weil er von beiden Elternteilen defekte Kopien des Gens SMN1 geerbt hat. Spezialisierte Nervenzellen im Rückenmark, sogenannte Motoneuronen, die Impulse vom Gehirn an zahlreiche Muskeln weiterleiten, können dadurch nur kurz überleben. Ohne diese Impulse werden viele Muskeln gar nicht erst aufgebaut. Das bisher eingesetzte Medikament Spinraza kann die Degeneration der Muskeln nur bremsen. Per Kanüle werden dazu zusätzliche Motoneuronen ins Rückenmark eingebracht. Die Prozedur kostet im ersten Jahr 750.000 Dollar, in jedem weiteren noch einmal 375.000. Sie muss zeitlebens alle vier Monate wiederholt werden, ist sehr schmerzhaft - und kann doch nicht heilen. Zente hat bereits sechs dieser höchst invasiven Eingriffe hinter sich.
Das teuerste Medikament der Welt
"Zente ist ein Kämpfer", sagt die Stimme seiner Mutter in einem kurzen Film auf Facebook, mit dem sie im Spätsommer 2019 Hunderttausende am beschwerlichen Weg ihres Sohnes teilhaben lässt. Trotz seiner Tapferkeit kann Krisztina lange nur das fortschreitende Leid dokumentieren. Doch während der Behandlung mit Spinraza verfolgt die Familie auch die Entwicklung eines neuartigen Medikaments - das drei Monate nach Zentes erstem Geburtstag tatsächlich zur Anwendung zugelassen wird, wenn auch vorerst nur in den USA.
Die US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA) erteilt dem Schweizer Pharmakonzern Novartis am 24. Mai 2019 die Lizenz für Zolgensma. Das Mittel muss nur ein einziges Mal per Injektion in die Blutbahn eingebracht werden und enthält eine funktionsfähige Version des in Zentes Körper defekten Gens SMN1. Aber die Zeit drängt: Das Medikament darf nicht nach der Vollendung des zweiten Lebensjahres angewendet werden. Zente bleiben also nur Monate. Die noch größere Hürde ist jedoch der Preis. Zolgensma ist das teuerste Medikament der Welt, die benötigte Einmaldosis kostet 2,1 Millionen Dollar - also rund 1,9 Millionen Euro oder 700 Millionen ungarische Forint.
"Glaube nicht, dass es eine Million Menschen gibt"
Obwohl es als Wundermittel gepriesen wird, ist Zolgensma beileibe nicht unumstritten. Hersteller Novartis gerät nach der Zulassung in die Kritik, weil er Daten aus Tierversuchen einer Teststudie verschwiegen haben soll. Die FDA stellte inzwischen klar, dass die fehlenden Daten die Entscheidung nicht geändert hätten und Zolgensma seine Zulassung behält. Größer noch war die Empörung über den aufgerufenen Preis. Novartis selbst verteidigt diesen vorrangig mit den langfristigen Einsparungen der Patienten durch das weitgehende Wegfallen der ebenfalls teuren und zusätzlich invasiven Dauerbehandlung.
Genau darauf hofft nun auch Zentes Familie. Doch aus eigener Kraft kann sie die enorme Summe nicht aufbringen. Und so reift die Idee, dass viele Menschen gemeinsam mit Kleinstbeträgen Großes bewirken können. Kontoverbindungen werden über Facebook geteilt, Gofundme-Kampagnen und PayPal-Accounts eingerichtet. Der Aufruf: Wer helfen möchte und kann, soll nur 700 ungarische Forint (also etwa zwei Euro) geben. Dann braucht es eine Million Spender für die 700 Millionen Forint. Eine Million Menschen für Zentes Medizin. Aber Krisztina zweifelt: "Wenn ich die Alten, Kinder und Kranken in unserem kleinen Land abziehe, bleiben nicht viele Arbeiter übrig. Und auch von denen leben viele am Existenzminimum. Somit glaube ich nicht, dass es eine Million Menschen gibt, die sich das leisten können."
Die Aktion läuft langsam an. Aus den 38 Spendern des ersten Tages werden nach einer Woche fast 1500. Weitere zehn Tage später sind es knapp 4000. Dann kommt die wohl größte Einzelspende: 5,5 Millionen Forint auf einmal katapultieren den Kontostand in die Höhe. Damit hat die Familie am 17. September etwas über sieben Millionen Forint zusammen. Eine "ungeheure" Summe, wie Krisztina es kaum glauben kann. Und doch ist es erst ein Prozent dessen, was sie brauchen.
Und dann kommen die Betrüger
Der Stein scheint nun aber ins Rollen gekommen. Am Tag darauf springt die Summe auf über 60 Millionen Forint, auch 27.000 Euro werden überwiesen. Der ungarische Fernsehsender RTL berichtet über Zente, die Spenden verdoppeln sich binnen eines weiteren Tages, ein neuer Aufruf auf Englisch bringt schnell Hunderte Pfund. Und dann kommen die Betrüger. Zentes Mutter berichtet, dass mehrere Personen versucht haben sollen, die Gutmütigkeit der zahlreichen bereitwilligen Spender auszunutzen, indem sie den Aufruf bei Facebook mit ihren eigenen Kontodaten weiterverbreitet haben. Krisztina spricht sich und allen Beteiligten Mut zu: "Trotz all der Attacken und des Betrugs, wir vertrauen in die Kraft der Gemeinschaft. Eine derart große Zusammenarbeit hat es in einem so kleinen Land nie zuvor gegeben."
Sie soll Recht behalten, der Erfolg wird nicht mehr gebrochen. Schon am nächsten Tag meldet Zentes Mutter: "421.533.183 Forint + 82.160 Euro + 9494 Pfund (Das sind mehr als 60 Prozent!!!)". Und dann, am 25. September, gerade einmal vier Wochen nach dem Beginn der Aktion: "Sikerült!" Geschafft! Die 700 Millionen Forint, die gesamten 2,1 Millionen Dollar, sind beisammen.
Und noch etwas haben Zente und seine Familie bereits jetzt erreicht: Weit über 100.000 Menschen folgen inzwischen Krisztinas Berichten bei Facebook, allein das Video wurde mehr als eine Million mal angesehen, die Anteilnahme und das Interesse sind riesig. "Ich glaube, selbst der Papst hat in den letzten Tagen nicht so viele Zuschriften bekommen wie wir", schreibt die überwältigte Mutter und ruft dazu auf, den vielen anderen Betroffenen zu helfen. Sie weiß für sich aber auch: "Ich werde nicht zur Ruhe kommen, bis die Behandlung vorbei ist". Die ganze Familie kommt nun in Quarantäne, denn schon in wenigen Tagen soll Zentes wochenlange Steroid-Behandlung beginnen, die nach und nach sein Immunsystem schwächt. Selbst wenn also das Medikament hält, was es verspricht, hat Zente noch einen langen und harten Weg vor sich. Aber vielleicht kann er ihn dann eines Tages auf seinen eigenen Beinen gehen.
Quelle: n-tv.de
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