Vor einiger Zeit war bekannt geworden, dass Russlands Präsident Wladimir Putin den Nato-Staaten schriftlich einen gegenseitigen Verzicht auf die Stationierung landgestützter atomarer Mittelstreckenraketen in Europa vorgeschlagen hatte. Sofort lehnte Brüssel die Initiative als „nicht glaubwürdiges Angebot“ ab, die Bundesregierung kündigte Verhandlungen an, bleibt seitdem aber taubstumm. „Die Frage ist nicht, was die Bundesregierung unternehmen könnte, sondern was sie will.
Aus meiner Sicht hat das Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle generell keine Priorität für sie“, kommentierte der Sicherheitsexperte Dr. Siegfried Fischer gegenüber Sputnik - Berlin habe weder Expertise noch Rückgrat dafür. Die Frage, die bleibt, soll heißen: Was könnte aber Russland tun?
Gerade auf dieses Thema ist der bekannte russische Politologe, Dekan der Fakultät für Weltwirtschaft und -politik der High School of Econimics, Sergej Karaganow, von der Zeitung „Vzgljad“ bei dem jährlichen Internationalen Diskussionsklub „Waldai“ in Sotschi angesprochen worden. Unterstützt von dem russischen Außenministerium veröffentlichte er kürzlich einen längeren Bericht zum Thema „Neues Verständnis und Wege zur Stärkung der multilateralen strategischen Stabilität“, wo er samt dem Politologen Dmitri Suslow eben die Risiken eines nuklearen Krieges beschreibt. Sein Interesse für solch ein Thema erklärt er in einem Interview damit, dass das heutige Russland nicht nur in der Innen-, sondern auch in der Außenpolitik einer strategischen Idee bedürfe.
„Strategischer Parasitismus“ vs. Friedenspolitik
„Zuerst wollten wir zum Westen gehören, dann bemühten wie uns ums Überleben, wir durften uns von den Knien erheben, wurden angeblich wieder eine Großmacht - und etwa seit 2016 haben wie nichts mehr vor“, argumentiert der Politologe zunächst. Eine der generellen Ideen der russischen Außenpolitik sollte daher aus seiner Sicht darin bestehen, <...> dass Russland zum internationalen Sicherheitsgaranten für sich selbst und die Welt wird“. Dafür gibt es laut Karaganow gewisse Voraussetzungen.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion hätten bedingt friedliebende Länder plötzlich losgeschlagen, Jugoslawien beinahe „vergewaltigt“, den Irak und Libyen angegriffen und eine ungeheure Menge von Menschen ermordet, so der Politikwissenschaftler. Als dann Russland sein strategisches Potenzial sowie die Möglichkeiten einer effektiven Abschreckung wiederhergestellt habe, sei der Drang des Westens nach einer militärischen Überlegenheit, die fast fünf Jahrhunderte lang die Basis seiner politischen, wirtschaftlichen sowie kulturellen Dominanz gewesen sei, gezügelt worden. „Nun muss man den Frieden sichern und nebenbei das Risiko eines Krieges vermeiden.“
Fortgeschrittene Aufrüstung, darunter Cyberwaffen oder Drohnen, die mit einer Atomwaffe ausgestattet werden, haben laut dem Experten samt der „Degradation von politischen Eliten“ und deren Angst vor einer geopolitischen Niederlage in vielen Ländern zum Kriegsrisiko geführt.
„Darüber hinaus hat sich der sogenannte „strategische Parasitismus“ überall in der Welt, nicht nur im Westen, sondern auch in Russland etabliert - die Menschen haben sich an den Frieden gewöhnt, als wäre er selbstverständlich. Die Generation, die auf genetischer Ebene Angst vor einem Krieg hatte, ist nicht mehr da.“
Damit die Welt aber nicht zerbreche, müsse man eine entsprechende Friedenspolitik betreiben, so Karaganow. Solch eine Politik könnte daher zur neuen russischen Mission werden. Dass die westlichen Politiker Putins Angebot derzeit ablehnen, müsse Russland nicht verstimmen, denn die Sicherung des Friedens sei ein langfristiger Prozess.
Ein äußerer Feind zur Selbstorganisierung?
Die DDR ist seinerzeit geschaffen worden, weil die Alliierten und vor allem die USA den kommunistischen Gegenpol offenbar nicht hinnahmen. Die Tendenzen, bei denen mehrere Staaten sich wieder einen Feind aussuchen, sollen wachsen. Warum?
„In der Sowjetunion konnten wir nicht ohne einen Feind existieren, und wir können dies auch in Russland nicht, weil wir genetisch bedingt ein Land sind, das in der Defensive aufgewachsen ist“, erklärt Karaganow.
Sollte Russland darauf verzichten, falle alles zusammen. „Einer der Gründe, warum wir in den späten 80ern gestürzt sind, war der Ausgangspunkt, dass niemand uns mehr bedroht. Deshalb brauchen wir leider ein gewisses Maß an äußerer Bedrohung für die Selbstorganisierung der Gesellschaft“, meint der Politologe.
Er weist weiter darauf hin, dass selbst die als demokratisch proklamierten westlichen Staaten sich künstlich einen äußeren Feind aussuchen würden. Diese Narration über die angebliche russische Einmischung überall auf der Welt, so Karaganow, sei eben zur Selbstorganisierung da. Das bedeute aus seiner Sicht nicht, dass Demokratien nicht erstrebenswert seien.
„Aber eine Demokratie in China würde zur seiner Zerstörung führen. Jede Gesellschaft muss sich nach ihren eigenen Gesetzen entwickeln“, so Karaganow.
Er gibt dabei zu, dass Russland mehr Demokratie auf kommunaler Ebene brauche. Das sei der wichtigste Fehler in den letzten 30 Jahren. „Wenn wir aber wieder in eine Situation wie in den 90ern geraten, werden wir wieder zusammenbrechen.“
Darum sind Russland und China doch keine Verbündeten
Was schlägt Karaganow als Lösung vor?
„Das Erste ist ein aktiver Kampf um den Frieden. Dann wäre ein Übergang zu einer neuen Philosophie gefragt: Nicht zur vollständigen Überwindung von Atomwaffen, sondern zur Stärkung der multilateralen nuklearen Abschreckung.“
Also wäre Russland laut Karaganow daran interessiert, dass die USA und die EU sich zurückhalten und keine Angst vor Russland haben. Die USA dagegen sollen ihrerseits daran Interesse haben, dass Russland sich zurückhalte und keine Angst habe. Das Gleiche gelte für China. „Das Dritte wäre die Stärkung des Dialogs bzw. der Kontakte, letztendlich eines dreifachen Dialogs zwischen Russland, China und den USA.“
Warum sind Russland und China immer noch keine Verbündeten und scheinen zugleich keine Angst voreinander zu haben? Dafür hat Karaganow eben eine Antwort.
Für uns und die Chinesen sei Souveränität alles. Man könne keine Verbündeten sein, weil man zugleich strategische Rivalen sei.
„Aber wie brauchen einander zugleich, indem sie uns mit ihrem ‚wirtschaftlichen Kissen‘ und wir sie mit unserer militärischen Kraft stärken.“ Russland habe auch gerade wegen der nuklearen Überlegenheit keine Angst vor China. „Und die Chinesen sollten daran interessiert sein, dass wir diese behalten, damit wir sie nie fürchten. Wenn wir Angst vor ihnen haben, wird dies Verdacht und Befürchtungen säen, und am Ende können sogar Konflikte entstehen“, so Karaganow abschließend.
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