Es ist ein lauer Sommerabend Ende Juni 2017 in Heiligenstadt. Auf der Wilhelmsstraße, der Einkaufsmeile der Kreisstadt, sitzen mehrere junge Männer vor einer kleinen Sisha-Bar. Es ist kurz nach 23 Uhr, als ein Wagen vorfährt, drei Männer steigen aus und gehen auf die Bar zu. Sie beginnen mit zwei der dort sitzenden Gäste einen Streit. Nach nur wenigen Minuten kommt ein vierter Mann hinzu und beginnt gemeinsam mit dem Trio auf die beiden jungen Leute einzuprügeln. Die versuchen, sich zu verteidigen, und fliehen in die Toilette der Bar. Von dort rufen sie die Polizei und stellen dabei fest, dass sie mit Messern attackiert worden waren. Beide müssen mit Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden.
Fehde einer armenischen Großfamilie im Eichsfeld
Für die herbeigerufenen Beamten ist der Vorfall mit den beteiligten Personen nicht neu. In einem internen Einsatzbericht, der MDR THÜRINGEN vorliegt, vermerken sie später: "Aus den bisherigen Informationen muss davon ausgegangen werden, dass es sich bei diesen Auseinandersetzungen um eine Familienfehde einer armenischen Großfamilie handelt." Diese "Großfamilie" lebt seit knapp 20 Jahren in und um die Eichsfelder Gemeinde Leinefelde-Worbis, hat aber weitreichende verwandtschaftliche Beziehungen in Deutschland, Frankreich, Belgien und Armenien.
Der Vorfall im Juni 2017 war nicht der erste und nicht der letzte, der die Ermittler immer wieder in Atem hält. Nur ein Jahr später, im Mai 2018, geht der in etwa gleiche Personenkreis mitten in der Göttinger Innenstadt aufeinander los. Es folgen Razzien und Festnahmen der Polizei. Aber nur Wochen später eskaliert die Lage erneut. Wieder rückt die Polizei in Mannschaftsstärke an. Erst Mitte Oktober dieses Jahres attackieren sich Mitglieder der völlig verfeindeten Familien-Teile in und vor einem Supermarkt in Leinefelde-Worbis.
Streit um Grundstück?
Offiziell heißt es von Staatsanwaltschaft und Polizei: Es sei ein zurückliegender Streit um ein Grundstück. Beide Clans innerhalb der armenischen Großfamilie unterhalten jeweils einen Autohandel in Leinefelde-Worbis. Dazwischen liegt ein Werkstattgebäude, das bis vor einigen Jahren einem deutschen Besitzer gehörte. Angeblich habe dieser der einen Gruppe versprochen, es an sie zu verkaufen, und die andere habe es widerrechtlich bekommen. Die andere Familien-Gruppe sieht das offenbar anders und sagt, sie habe sehr wohl das Anrecht darauf. Welche Version stimmt, bleibt völlig offen, denn keiner der Beteiligten hat sich bisher der Polizei wirklich offenbart.
Schießerei an Heiligabend
Doch ob das der wirkliche Grund für die teils brutalen und langjährigen Auseinandersetzungen ist, darf bezweifelt werden. Denn vor knapp 15 Jahren, noch lange vor dem Grundstücksstreit, ging es zwischen den Clans um Leben und Tod. In der Nacht vor Heiligabend 2005 kam es in einem Worbiser Neubaugebiet zu einem Schusswechsel. Mehrere Männer schossen und gingen mit Messern aufeinander los. Es gab einen Schwerverletzten. Nur Tage später wurden fünf Armenier von einem Spezialeinsatzkommando gefasst und später zu Haft- und Bewährungsstrafen verurteilt. Schon damals vermuteten die Ermittler eine Fehde und der Grund sei angeblich eine Beleidigung gewesen.
Spuren zu Mafia-Paten in Frankreich
Doch nach alle diesen ganzen blutigen Vorfällen interessieren sich auch die Fahnder des Landeskriminalamtes für die Strukturen im Eichsfeld. Nach MDR THÜRINGEN-Informationen aus Polizeikreisen soll sogar das Bundeskriminalamt seinen Blick auf das Eichsfeld gerichtet haben. Das könnte unter anderem den Grund haben, dass Mitglieder der Clans bundesweit und im Ausland gut vernetzt sind. So liegen MDR THÜRINGEN Unterlagen vor, die eine Spur vom Eichsfeld zu mutmaßlichen armenischen Mafia-Paten in Frankreich zeigen.
Es gibt Kontakte nach Belgien, wo sich - Ermittlungen von BKA und Europol zufolge - Bosse der armenischen Mafia aufhalten, sogenannte "Diebe im Gesetz". Bei der Auswertung von mehr als 58.000 Seiten internen Aktenmaterials hat MDR THÜRINGEN Hinweise auf einen millionenschweren Autohandel armenischer Clans zwischen Belgien und Deutschland gefunden. Es besteht dabei der Verdacht, dass auf diesem Weg auch Drogen in den Fahrzeugen nach Thüringen, Sachsen oder Sachsen-Anhalt gebracht werden.
Hinweise aus "Wodka-Verfahren"
Doch es könnte bei dem Streit auch um ein weiteres lukratives Geschäft gehen. Denn es gibt offenbar eine Verbindung zwischen den armenischen Clans und Verfahren am Landgericht Mühlhausen. In mehreren Verfahren ging es um das Hinterziehen von Branntweinsteuer in Millionenhöhe. Inhaber, Geschäftsführer und Mitarbeiter einer Schnaps-Firma in Leinefelde-Worbis sollen Hektoliterweise unversteuerten Wodka verkauft haben. Die Firma hatte unter anderem ihren Sitz genau an der Adresse, unter der eines der Autohäuser der Armenier in Leinefelde-Worbis firmiert. Seit 2011 liefen Ermittlungen des Zoll, es gab mehrere Prozesse, der letzte ist immer noch nicht zu Ende. Einer der Hauptdrahtzieher gehört mutmaßlich einem der armenischen Clans an. Die Staatsanwaltschaft Mühlhausen bestätigte MDR THÜRINGEN, dass er auch einer der Verurteilten aus der Schießerei von 2005 war.
Keine Verbindung zu Erfurter Clans
Das Geschäft mit dem unversteuerten Wodka könnte einer der Einkommenszweige der armenischen Gruppen sein. So sollen unter anderem Großraum-Diskotheken im Ruhrgebiet, Hannover und Berlin beliefert worden sein. Die Gewinnmargen bei unversteuertem Alkohol liegen sehr hoch, das Entdeckungsrisiko ist bei wenig Kontrolldruck sehr gering und Verfahren sind aufwendig. Bisher ist keiner der Angeklagten - trotz der Millionensumme, die mutmaßlich hinterzogen wurde - ins Gefängnis gegangen.
Die Fahnder vermuten, dass bei einigen Mitgliedern der Clans im Eichsfeld der Verdacht besteht, dass sie entweder zur armenischen Mafia gehören oder gute Kontakte zur ihr haben. Das zeigen auch Fotos, die MDR THÜRINGEN vorliegen, auf denen die Männer mit mutmaßlichen armenischen Mafia-Autoritäten aus Berlin und Dresden posieren. Bisher schließen die Ermittler aber aus, dass es eine Verbindung zu den armenischen Mafia-Clans in Erfurt und Leipzig gibt, die im Juli 2014 an der Mafia-Schießerei in Erfurt beteiligt waren. Das lege den Verdacht nahe, heißt es aus Ermittlerkreisen, dass die Clanstrukturen im Eichsfeld völlig andere und selbstständig agierende sind.
mdr.de
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