Diesen Moment wird keiner der Beteiligten so schnell vergessen: In einer telefonischen Krisenkonferenz mit Gouverneuren der US-Bundesstaaten war Donald Trumps Stimme an jenem 16. März klar und deutlich zu vernehmen. "Beatmungsgeräte, die ganze Ausrüstung, versucht es selbst zu bekommen", riet der US-Präsident den Hilfe suchenden Regionalpolitikern, "das geht viel schneller".
Für viele US-Amerikaner gleicht Trumps Ratschlag einem politischen Offenbarungseid. Aus dem Weißen Haus, das musste spätestens jetzt allen Gouverneuren klar sein, ist unter diesem Präsidenten weder tatkräftige Hilfe, noch klare Führung zu erwarten. Die einzelnen Staaten und die abgelegenen US-Außengebiete sind im angesichts der größten Katastrophe im öffentlichen Gesundheitsweisen in der Geschichte der USA vorerst auf sich allein gestellt.
Die Hoffnung auf den Staat, der die gemeinsame Gefahrenabwehr koordiniert und mit Blick aufs Gemeinwohl handelt, ist unter Trump vergebens. Im Kampf gegen einen unsichtbaren, in alle Bundesstaaten vordringenden Gegner ist die finanzielle und militärische Stärke der letzten verbleibenden Supermacht ohne Plan und Vernunft nicht viel nütze. Das Weiße Haus hat diese Herausforderung wochenlang unterschätzt - und dabei wertvolle Zeit verstreichen lassen, wie unter anderem das Beispiel Südkorea zeigt.
Das Coronavirus erreichte die asiatische Industrienation exakt am selben Tag wie die Vereinigten Staaten. Der jeweils erste Infektionsfall wurde am 20. Januar nachgewiesen und einen Tag später öffentlich bekannt. Doch die nachfolgende Ansteckungswelle verlief in beiden Staaten vollkommen unterschiedlich. In Südkorea ergriffen die Behörden rasch energische Maßnahmen und gingen schnell und entschieden gegen die Ausbreitung vor. Mittlerweile ist das Virus dort größtenteils unter Kontrolle. Die rund 50 Millionen Einwohner wurden seit Anfang Februar einem massiven Testprogramm unterzogen. Verdachtsfälle werden rigoros isoliert, alle Kontaktpersonen identifiziert und umgehend unter Quarantäne gestellt.
In den USA dagegen beschränkte sich die Epidemieabwehr zunächst nur auf eine ebenso spektakuläre wie umstrittene Maßnahme. Anfang Februar verhängte Washington ein Einreiseverbot für Menschen aus den am schwersten betroffenen Regionen in China. "Wir haben es völlig unter Kontrolle", hatte US-Präsident Trump wenige Tage zuvor beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos erklärt. "Es wird alles gut werden."
Nach diesem Muster ging es im Weißen Haus noch wochenlang weiter. Trump leugnete, verharmloste und verdrehte die Fakten. Aber das Coronavirus ging nicht "einfach weg", wie er behauptete. Kein "Wunder" rettete das Land vor der schleichenden Ausbreitung des Erregers. Zum Zeitpunkt der Grenzschließungen - erst für Chinesen, später auch für Europäer - war Sars-CoV-2 schon längst im Land.
Wertvolle Zeit verstrich ungenutzt, mit offenen Augen liefen die USA in die Corona-Katastrophe. Ende März war nicht mehr zu leugnen, dass die Vereinigten Staaten sich zum globale Epizentrum der Pandemie entwickelt hatten und bis heute sind. Was ist falsch gelaufen? In Stichworten: Kleinstaaterei, Bürokratiestau, eine folgenschwere Fehlentscheidung des Seuchenkontrollzentrums CDC - und, über allem, ein eklatanter Mangel an klarer politischer Führung auf Bundesebene. Trump selbst trägt eine nicht unerhebliche Mitschuld an der Entwicklung.
Geheimdienste und Experten hatten das Weiße Haus schon im Januar eindringlich vor den Gefahren des Virus gewarnt, blieben aber an entscheidender Stelle ungehört. Also trafen die 50 Bundesstaaten ohne Führung einen Flickenteppich an Entscheidungen. Zum Glück blieben sie nicht genauso untätig wie das Weiße Haus, so die einhellige Meinung mehrerer Experten, mit denen ntv.de gesprochen hat. "Es passiert eine Menge, obwohl der Präsident ein Komplettausfall ist", urteilte etwa Johannes Thimm von der Stiftung Wissenschaft und Politik Anfang April. Nur: Es geschieht zu spät.
Mehr Tote als in vier Kriegen
Weil der erste Infizierte früh bekannt war, hatten die Vereinigten Staaten einen wochenlangen Vorsprung gegenüber den Europäern, nutzten ihn aber nicht. "Das ist zum großen Teil mangelnder Führung geschuldet, dass Trump die Situation nicht ernst genommen hat und die USA für unverwundbar gehalten hat", sagt Thimm. Andere Wissenschaftler äußerten sich gegenüber ntv.de ähnlich.
Seit der denkwürdigen Telefonkonferenz am 16. März hat sich die Lage in den USA dramatisch verschärft. Inzwischen sind rund 500.000 Infektionsfälle bekannt, die Zahl der Todesopfer liegt bei fast 19.000. Einer Studie zufolge muss die Dunkelziffer viel höher angesetzt werden. Alle 50 Bundesstaaten und vier US-Außengebiete kämpfen gegen lokale Ansteckungen. Nach Ansicht der Forscher könnten 94 Prozent der US-Bürger in Bezirken leben, in denen es zu bislang unentdeckten Übertragungen kommt. Die Szenarien für die kommenden Wochen sind düster. Selbst im besten Fall müssen sich die USA auf rund 100.000 Tote einstellen.
Südkorea dagegen zählt bis heute weniger als 210 Tote. Die aus dem benachbarten Riesenreich China drohende Infektionswelle konnten die südkoreanischen Behörden beeindruckend rasch unter Kontrolle bringen. Kein Lockdown oder andere große Einschränkungen im öffentlichen Leben waren dafür nötig.
Am 18. März, als Trump sich erstmals einen Kriegszeitpräsidenten nannte und das neuartige Coronavirus den Feind, hatte er bereits allen Grund dazu. An diesem Tag war längst klar, dass die von dem Virus ausgelöste Atemwegserkrankung Covid-19 voraussichtlich mehr US-Amerikaner das Leben kosten wird als auf den Schlachtfeldern in Korea, Vietnam, Afghanistan und Irak zusammen.
Die ausbleibenden, im besten Fall unzureichenden Maßnahmen des Weißen Hauses versuchen Trump und sein Außenminister Mike Pompeo unter anderem mit Kritik an der Weltgesundheitsorganisation WHO zu verschleiern. Die WHO habe ihre Aufgabe nicht erfüllt, so Pompeo. Doch an jenem Tag, als die Organisation die Gefahrenstufe von Sars-Cov-2 auf die höchste Stufe anhob, nannte Trump das Virus eine Falschmeldung.
Lehren aus Sars und Mers
Südkorea hatte hingegen Erfolg, weil frühzeitig und entschlossen umfangreiche Maßnahmen in Kraft setzte. Das Land hatte bereits im Jahr 2015 erlebt, wie verheerend zögerliche staatliche Reaktionen in Virus-Krisen wirken. Ein Geschäftsmann hatte damals den Mers-Erreger aus dem Nahen Osten mitgebracht. Als der Infektionsfall erkannt wurde, war der Erkrankte bereits an drei Orten des Landes behandelt worden und hatte so eine verhängnisvolle Kettenreaktion in Gang gesetzt: 186 Menschen waren infiziert, 17.000 weitere Personen mussten in Quarantäne. Erst zwei Monaten und 36 Todesopfer später bekam Südkorea das Virus unter Kontrolle.
Die Regierung in Seoul zog daraus wertvolle Schlüsse: Unter anderem sammelt der Staat inzwischen anonymisierte Handy-, Kreditkarten- und andere Daten, um damit Aufenthaltsorte von Infizierten zurückverfolgen zu können. Auf diese Weise können Kontaktpersonen schnell ermittelt und darüber informiert werden, dass sie dem Virus ausgesetzt waren und sich isolieren sollten.
Das ist jedoch längst nicht alles: Diesmal dauerte es nach dem ersten Infektionsfall im Land nur zweieinhalb Wochen, bis Südkorea einen eigenen Test entwickelt, geprüft und ab 7. Februar für den dezentralen Masseneinsatz freigegeben hatte. Dieses Vorgehen war entscheidend für effektive Abwehrmaßnahmen in der anstehenden Pandemie.
Auf der anderen Seite des Pazifiks vergeudeten die US-Behörden zugleich mehrere Wochen, weil die ersten Tests aus dem US-Seuchenkontrollzentrum CDC nicht zuverlässig funktionierten. In Washington wurde das tödliche Risiko dieses Fehlers nicht ernst genug genommen. Noch Mitte Februar drehten sich die Krisentreffen zu Sars-Cov-2 dort fast ausschließlich um das Thema Grenzschließungen, anstatt das grundlegende Testproblem zu beseitigen und das US-Gesundheitssystem auf die drohenden Belastungen vorzubereiten.
Obwohl die Bedeutung der Tests bekannt war, blieb ein folgenschwerer Flaschenhals an seinem Platz: Wochenlang durfte in den USA nur zentral vom CDC geprüft werden. Externen Labors war die Teilnahme untersagt, die leistungsfähige Pharmaindustrie war angehalten, keine eigenen Verfahren zu entwickeln. Diese fragwürdige Vorgabe fiel aufgrund Kompetenzgerangels erst am 29. Februar weg; die zentrale Überprüfung noch weitere zwei Wochen später. An diesem 13. März hatte Südkorea bereits weite Teile der Bevölkerung in den am schwersten betroffenen Regionen getestet. Zum Vergleich: Seoul konnte sich bis dahin bereits auf 5227 Tests pro Million Einwohner stützen. In den USA waren es 69.
US-Experte Thimm ist überzeugt, dass Trumps Beratungsresistenz und nationaler Tunnelblick verhinderten, dass die USA aus internationalen Erfahrungen wie etwa vom Ansatz Südkoreas lernen konnten und entsprechend rechtzeitig handelten. Auch für Keith Jerome, Virologe an der Universität von Washington, waren es die so verlorenen Wochen, die zur derzeitigen Katastrophe geführt haben. "Als wir entschieden, dass alle Coronavirus-Tests von einer Instanz durchgeführt werden musste, haben wir unsere größte Stärke aufgegeben", zitiert ihn das US-Magazin "Technology Review".
Die unterschiedlichen Vorgehensweisen der beiden Länder sind in Daten deutlich zu erkennen. Am 6. April meldete das südkoreanische Seuchenkontrollzentrum nur noch 3125 aktuell Infizierte. Insgesamt verzeichnete das Land lediglich 10.450 nachgewiesene Infektionsfälle. In den USA dagegen kommen derzeit pro Tag fast drei Mal so viele neu entdeckte Ansteckungen hinzu. Die Gesamtzahl hat die Schwelle von 500.000 überschritten. Mehr als 18.000 Menschen sind in den USA nach einer Sars-Cov-2-Infektion bereits gestorben.
Das bisherige Gesamturteil über die Krisenreaktion fällt eindeutig aus: Einer der Vorkämpfer gegen Ebola, Ron Klain, nannte das Verhalten der US-Regierung in der Corona-Krise bereits "ein Fiasko unglaublicher Ausmaße", das zukünftig "als Paradebeispiel für desaströses Scheitern staatlicher Bemühungen" betrachtet werden dürfte. Es gibt weitere Experten, die das ähnlich sehen. Voraussichtlich kein Land der Welt wird so von der Sars-Cov-2-Pandemie getroffen werden wie die USA. Sie wird in die Geschichte der Vereinigten Staaten eingehen als eines der großen nationalen Traumata: Pearl Harbor. Vietnam. Die 9/11-Anschläge. Und nun: Corona.
Quelle: ntv.de
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