Plötzlich vor dem Nichts

  06 Juni 2020    Gelesen: 804
Plötzlich vor dem Nichts

Die griechische Regierung setzt 11.000 anerkannte Flüchtlinge auf die Straße. Hilfsorganisationen und Bürgermeister sind entsetzt. Die Maßnahme ist offenbar Teil eines größeren Plans.

An einem warmen Sommermorgen sitzt Gohar etwas abseits der Container und Zelte, die nun schon seit Jahren ihr Zuhause sind. Die zwölfjährige Pakistanerin lebt in einem Camp für Asylbewerber im Norden Griechenlands. Gohar und ihre Familie haben sich durchgeschlagen, 5000 Kilometer, von Balutschistan bis Thessaloniki, sie haben die Behörden überzeugt und Asyl bekommen. Gohar und ihre Familie haben es geschafft. Eigentlich.

Doch in ein paar Tagen werden sie ihr Zuhause verlieren. Eine Woche hat Gohar, um sich zu verabschieden, um etwas Neues zu finden. "Wir haben keine Ahnung, wo wir hingehen sollen", sagt sie. Ihre Eltern haben keinen Job und kaum Geld, um sich Essen zu kaufen. Wenn Gohar spricht, in fließendem Griechisch, wirkt sie seltsam erwachsen.

Gohar ist eine von mehr als 11.000 anerkannten Flüchtlingen, die in Griechenland nun vor der Obdachlosigkeit stehen. Die griechische Regierung hat damit begonnen, sie aus Lagern und Apartments zu werfen, die für Asylbewerber mit laufenden Verfahren eingerichtet wurden. Innerhalb weniger Tage müssen sie die Wohnungen oder die Lager verlassen.

Griechenland hat lange so getan, als wären die Flüchtlinge eine vorübergehende Erscheinung. Seit 2014 sind mehr als eine Million Flüchtlinge ins Land gekommen. Anfangs zogen sie schnell weiter. Doch der Weg nach Norden über den Balkan ist inzwischen versperrt. 

Integrationsprogramme gibt es kaum. Selbst wer Griechisch lernt, findet häufig keinen Job. In der Coronakrise ist es noch schwieriger. Die Wohnungssuche gleicht einem Albtraum, viele Griechen wollen keine Migranten in ihren Häusern. Bis Flüchtlinge die bürokratischen Hürden für Sozialleistungen genommen haben, dauert es Monate.

Hunderte Flüchtlinge wohnen deshalb trotz eines bewilligten Asylantrags in den Elendslagern auf den Inseln oder den etwas besseren Lagern auf dem Festland. Zumindest Essen gibt es dort regelmäßig.

Menschenrechtsorganisationen sind entsetzt, dass die Regierung diese Flüchtlinge nun einfach auf die Straße setzt. Griechische Bürgermeister fürchten, dass sie in Parks und auf öffentlichen Plätzen schlafen müssen.

Seit seinem Amtsantritt hat der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis die Migrationspolitik seines Landes immer weiter verschärft. Sie lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: Greece first. Seine Regierung diskutiert über Seebarrieren gegen Flüchtlinge, die Einspruchsfristen im Asylverfahren wurden verkürzt, auf den Inseln in der Ägäis will Mitsotakis Flüchtlinge in Haftanstalten stecken.

Auch als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Ende Februar Tausende Migranten an die Landesgrenze brachte, um die EU unter Druck zu setzen, blieb Mitsotakis hart. Das Asylrecht setzte er aus. Nach SPIEGEL-Recherchen erschossen griechische Grenzer aller Wahrscheinlichkeit nach mindestens einen Migranten.

Offiziell wollen die Behörden nun in den Lagern auf dem Festland Platz schaffen für Neuankömmlinge. Tatsächlich aber versucht die griechische Regierung die Zahl der Migranten im Land drastisch zu reduzieren. Sie will sich so auf eine neue Flüchtlingsbewegung vorzubereiten. 

Schon jetzt versammeln sich am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros wieder mehr Geflüchtete. Die Türkei hat die Corona-Restriktionen inzwischen gelockert. "Die Pandemie hat die ohnehin schon prekäre Situation der Geflüchteten in der Türkei weiter verschärft", sagt Natalie Gruber, ihre NGO Josoor versorgt Flüchtlinge in der Grenzregion. Die allermeisten Flüchtlinge hätten in der Coronakrise ihr Einkommen verloren.

Der griechischen Regierung kommt es da gelegen, wenn die anerkannten Flüchtlinge erst die Lager und wenig später auch das Land verlassen würden. Viele der Geflüchteten werden lieber in andere EU-Länder reisen statt in Athen auf der Straße zu leben. Sie können in Griechenland Reisepapiere beantragen, mit denen sie sich 90 Tage in anderen Schengen-Staaten aufhalten können. Normalerweise braucht man für den Antrag Monate oder Jahre. Nun hat die Regierung eigens ein neues Büro eröffnet, um den Prozess zu beschleunigen.

Auch an der Grenze zu Nordmazedonien und Albanien lässt sich die neue griechische Linie beobachten. Die Einheiten der Grenzschützer dort wurden ausgedünnt und an den türkisch-griechischen Grenzfluss Evros verlegt. Der Grenzschutz wird nach SPIEGEL-Informationen bewusst vernachlässigt. Die wenigen Grenzer, die noch da sind, stoppen Hunderte Flüchtlinge pro Tag. Viele mehr aber schaffen es über die Grenze. Es ist die erste Etappe der Balkanroute.

Am Evros gehen die Behörden weitaus brutaler vor. Seit Jahren dokumentieren NGOs und Medien dort illegale Rückführungen von Asylbewerbern in die Türkei. Im Dezember veröffentlichte der SPIEGEL Videos, die mutmaßlich zeigen, wie Asylbewerber über den Evros zurückgebracht werden. 

Die griechische Regierung bestreitet die Pushbacks, doch nun wurden sie offensichtlich noch ausgeweitet: Griechische Behörden verschleppen offenbar auch Migranten aus anderen Teilen des Landes an den Evros, um sie in die Türkei zurückzubringen. Flüchtlingshelfer sprechen von 300 Menschen, die zuletzt innerhalb einer Woche wieder in die Türkei gebracht wurden - so viele wie selten zuvor.

Einer von ihnen ist Yousaf, ein junger Mann aus Pakistan, Wie Ghoda lebte er im Camp bei Thessaloniki. Dann nahmen ihn die griechische Polizisten mit, mit zwei Dutzend anderen Migranten brachten sie ihn in einem Boot über den Evros. So erzählt es sein Bruder Imran, der noch immer im Camp lebt. So erzählt es auch Yousaf selbst. Fotos zeigen ihn in Thessaloniki. Der SPIEGEL erreicht ihn per Skype in Istanbul.

"Sie haben ihn einfach verschleppt, ich bin nur knapp entkommen", sagt Imran. Seinen Nachnamen will er nicht nennen, er möchte unerkannt bleiben. "Ich habe Angst, dass ich der nächste bin", sagt Imran. Wenn die Polizei ins Camp kommt, versteckt er sich.

spiegel


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