Eine andere Polizei ist möglich – oder? - Meinung + Video

  13 Juni 2020    Gelesen: 985
  Eine andere Polizei ist möglich – oder? -   Meinung   +   Video

Allenthalben in Amerika fordern Aktivisten: Schafft die Polizei ab! In Camden passierte das schon 2013 – auch, weil die Stadt pleite war. Jetzt gibt es weniger Kriminalität. Oder ist das nur schöner Schein?

Ein Mann läuft mit einem Messer in der Hand in einen Schnellimbiss. Als er wieder herauskommt, umzingeln ihn einige Polizisten. Sie reden mit dem Mann, laufen ein paar Meter neben ihm her, fordern ihn auf, das Messer fallen zu lassen. Schließlich überwältigen sie ihn. „Achtzehn Monate zuvor hätten wir auf den Kerl geschossen und ihn getötet, zwei Schritte aus dem Laden raus“, kommentierte Scott Thomson das Video aus dem Jahr 2015 laut dem Magazin „Politico“.

Thomson war Polizeichef von Camden in New Jersey, als die Stadt im Jahr 2013 ihre Polizeibehörde abschaffte. Und er wurde auch Chef der neuen Polizei, die künftig vom Landkreis überwacht werden sollte. Weil die Stadt damals alle Polizisten entließ und ein neues Modell der Kriminalitätsbekämpfung entwickeln wollte, ist sie heute wieder in den Schlagzeilen. Auf der Suche nach einem Modell für Polizeireformen schauen Aktivisten und Politiker nach New Jersey. Nachdem Polizist Derek Chauvin den Afroamerikaner George Floyd in Minneapolis tötete, hören Hunderttausende Amerikaner nicht mehr auf, für Reformen und gegen Rassismus zu demonstrieren. Und der Stadtrat von Minneapolis kündigte an, die Polizei in ihrer jetzigen Form abschaffen zu wollen.

An ihre Stelle soll eine bessere Ordnungsmacht treten. So stellten sich das viele Menschen vor sieben Jahren auch in Camden vor. Die Stadt, die nur durch den Delaware Fluss von Philadelphia getrennt ist, tat vordergründig das, was viele Aktivistinnen und Aktivisten fordern. Sie schaffte die alte Polizeibehörde ab. Chris Christie, der damalige republikanische Gouverneur von New Jersey, zählte zu den Unterstützern des Projekts. „Man musste die Prinzipien, die der Ausbildung von Polizisten zugrunde liegen und die Kultur der Polizeibehörde verändern“, sagte er gegenüber „Politico“.

Vom Krieger zum Beschützer

Das sei gelungen, weil man ganz von vorn angefangen habe. Thomson, der pensionierte Polizeichef, sagte, die Polizei befinde sich nun in der Rolle von „Beschützern“. Schon die von Präsident Barack Obama gegründete Polizeireform-Taskforce hatte einen Wandel vom „Krieger“ zum „Beschützer“ im Selbstbild von Polizisten empfohlen. Ein Besuch Obamas in Camden im Jahr 2015 sollte diese Verwandlung besiegeln.

Dass selbst ein konservativer Politiker wie Christie nicht viel Erhaltenswertes in der früheren Polizei von Camden sah, hing mit den bis dato erzielten Ergebnissen zusammen. Früher verglichen Statistiker die Mordrate von Camden mit der von Honduras – im Jahr 2012 wurden hier 67 Menschen getötet. Die 77.000 Einwohner zählende Stadt galt als eine der gefährlichsten des Landes. Der Strukturwandel hatte in der einstigen Industriestadt zu einer hohen Arbeitslosigkeit, weit verbreiteter Armut und einer zerstörten Innenstadt geführt. Camden war einer der vielen Orte in Amerika, wo seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts auf den Zuzug von Afroamerikanern aus dem Süden und die beginnende De-Industrialisierung die „White Flight“ in die Vorstädte folgte.

Die meisten Weißen sind weg

Weiße, die es sich leisten konnten und die keine integrierten Schulen akzeptieren wollten, verließen massenhaft die Innenstädte, denen daraufhin ein großer Teil ihrer Steuereinnahmen und Arbeitsplätze abhanden kam. Nur noch sechs Prozent von Camdens Bevölkerung sind „nicht-hispanische Weiße“. Rund 49 Prozent sind Latinos, 41 Prozent Afroamerikaner. Kritiker merken an, dass die Polizei dennoch fast zur Hälfte aus Weißen bestehe.

Im Jahr 2010 lebten fast 40 Prozent der Menschen in Camden unterhalb der Armutsgrenze und es gab 3000 leerstehende, verfallende Gebäude. Laut den Behörden fanden sich damals 175 Drogen-Umschlagplätze in der Stadt – und die meisten Dealer seien nicht aus Camden gekommen, sondern hätten die heruntergekommenen Straßen nur für ihre Geschäfte genutzt. Wie in vielen anderen amerikanischen Städten vertrauten viele Menschen der Polizei nicht mehr, denn die Polizisten galten als ineffizient und korrupt. Im Jahr 2010 war die Kommune so heruntergewirtschaftet, dass sie ein Haushaltsdefizit von 14 Millionen Dollar hatte und die Hälfte der Polizisten entlassen musste.

 

Daraufhin fiel die Zahl der Verhaftungen, während es immer mehr Straftaten gab. Im Jahr 2013, als die alte Polizei schließlich aufgelöst wurde, zählte man 1950 Gewalttaten. Im Jahr 2018 aber waren es offiziell nur noch 1197. Zu den Polizisten hätten die Einwohner heute ein wesentlich besseres Verhältnis – dass diese etwa auf Blockpartys willkommen seien, die Nachbarschaften auf ihrer Straße abhalten, sei keine Seltenheit, staunte etwa „Politico“. Die Zeitschrift „Newsweek“ nannte die Stadt ein Modell für andere Polizeibehörden im ganzen Land.

Ein Hauptziel der Aktion: Geld sparen

Doch nicht alle sind mit den Ergebnissen zufrieden. Dass man die Dominanz der mächtigen Polizeigewerkschaften brechen konnte, führte zum Beispiel dazu, dass viele Polizisten nun weniger Geld verdienen. Sie wurden erst entlassen und dann zu niedrigeren Löhnen wieder eingestellt. So konnte die klamme Kommune insgesamt mehr Polizisten beschäftigen. Die bekommen nun immerhin Deeskalationstrainings. Die Umorganisation der Polizei war aber letztlich ein gemeinsam aus der Not geborenes Projekt des republikanischen Bundesstaates und der demokratisch regierten Stadt. Geld zu sparen und dabei bessere Ergebnisse zu erzielen, war die Vorgabe. 

Diese Ergebnisse haben ihren Preis, meinen Kritiker. Unter der Fassade der fortschrittlichen neuen Polizei befinde sich eine moderne, aggressive Überwachungsbehörde mit freundlicher PR-Arbeit, kritisierte etwa Brendan McQuade, Kriminologe an der University of Southern Maine, im Magazin „The Appeal“. Das Polizei-Reformprojekt von Camden bedeute zwar eine partielle Abkehr von dem amerikanischen System der Masseneinkerkerung vor allem Armer und Schwarzer, aber das neue System setze stattdessen auf Massenüberwachung.

Damit sollten die sozialen Probleme zwar außerhalb des Gefängnisses bearbeitet werden – aber immer noch mit polizeilichen statt wirtschafts- und sozialpolitischen Mitteln. „Verkauft wird das in einer Sprache, die Linke lieben: Gemeinschaft, Engagement und Partizipation“, so McQuade. Die enthusiastischen Artikel über Camden unterschlügen den Ausbau technologischer Überwachungssysteme in der Stadt: „121 Kameras, die die gesamte Stadt überwachen, 35 ShotSpotter-Mikrofone, um Schüsse zu hören, Scanner, die Nummernschilder lesen, und SkyPatrol, eine mobile Observationseinheit, die sechs Blocks mit Wärmebildkameras abtasten kann.“

Alte Polizeitaktik unter neuen Namen?

McQuade begleitete eine Polizistin auf Streife und kam zu dem Ergebnis, dass das Camdener Modell letztlich die „Broken Windows“-Theorie anwende. Dabei werden kleinere Straftaten wie Marihuanabesitz, Schwarzfahren oder eben die Beschädigung eines Gebäudes besonders hart verfolgt, was zu einer hohen Zahl von Kleinkriminellen in den Gefängnissen führt.

„Community Policing“ sei nur der Begriff, mit dem „Broken Windows“ heute verkauft werde, sagte auch Darnell Hardwick von der Bürgerrechtsorganisation NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) in Camden. Tatsächlich war die neu geschaffene Polizei anfangs besonders aggressiv und verteilte zwischen Juli 2013 und Juni 2014 125.000 Strafzettel und Vorladungen, 97.000 mehr als im Vorjahr. Im Jahr 2014 habe die Polizei allein 99 Tickets für das Fahrradfahren ohne Klingel ausgestellt, so McQuade. Diese Art von „Nachbarschaftspolizei“ sei nichts anderes als „konstante Schikane“. 

FAZ.net


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