Der Perfektionist

  29 Juni 2020    Gelesen: 609
Der Perfektionist

Bayerns Robert Lewandowski hat sich im Verlauf seiner Karriere gewandelt: vom brachialen Stürmer und Chancentod zu einem der komplettesten Angreifer der Welt. In dieser Saison ist er sogar noch effizienter geworden.

Zunächst einmal die nüchternen Fakten. Bayern Münchens Robert Lewandowski hat sich mit 34 Saisontoren zum Torschützenkönig der Bundesliga-Saison 2019/2020 gekürt. Keinem ausländischen Bundesliga-Spieler gelangen je mehr Treffer in einer Saison. Nur Gerd Müller erzielte in drei Spielzeiten mehr als 34 Treffer, etwa in der Saison 1970/1971, als er 40-Mal in einer Saison traf. Zum fünften Mal hat Lewandowski die meisten Treffer einer Saison erzielt, nur Gerd Müller übertrumpft ihn mit sieben gewonnenen Torjäger-Kanonen.

Im Verlaufe dieser Saison erzielte Lewandowski:

  • 26 Tore mit dem Fuß - mehr als jeder andere Bundesliga-Spieler.
  • Achtmal köpfte er den Ball ins Tor – öfter als jeder andere Akteur.
  • Kein Spieler verwandelte mehr Elfmeter als der Pole (fünf Stück).

Es gibt kaum eine relevante Torjäger-Statistik, die Lewandowski nicht anführt. Er hat auf jede erdenkliche Art Tore erzielt. Er hat den Ball mit der Hacke im Netz untergebracht und über den Torhüter gelupft. Gegen Schalke zirkelte er sogar einen Freistoß aus 25 Metern in das linke Toreck.

Es gibt keine Facette des Stürmerspiels, die der Pole nicht beherrscht. Im Verlaufe seiner Karriere hat er seinem Spiel nach und nach Stärken zugeführt. Nie konnte er diese Stärken so gut abrufen wie in dieser Saison. Dass er mit 31 Jahren seinen eigenen Torrekord aufstellte, liegt vor allem an einem Grund: seiner verbesserten Chancenverwertung.

Jürgen Klopps Mann für das Grobe
Vor genau zehn Jahren begann Lewandowskis Bundesliga-Karriere. Borussia Dortmund hatte ihn vom polnischen Klub Lech Posen verpflichtet. Fast vergessen ist heute die Tatsache, dass Lewandowski bei BVB als Zehner begann: Hinter Sturmspitze Lucas Barrios war er der Mann für das Grobe. Sein Trainer Jürgen Klopp schätzte seinen unbändigen Eifer, gerade im Spiel gegen den Ball war Lewandowski kein Weg zu weit. Er passte perfekt zu Klopps Vollgasfußball mit hohem Pressing und aggressivem Gegenpressing.

Erst nachdem Barrios sich in der Saison 2011/2012 verletzte, avancierte Lewandowski zum Stammstürmer. Er überzeugte auf Anhieb mit seiner Wucht beim Sprint in den Strafraum. Hinzu kam seine technische Finesse, die er sich als Zehner angelernt hatte.

Zu Beginn seiner Karriere überzeugte er vor allem mit seiner Geschwindigkeit. Spätestens nach seinem Transfer nach München zur Saison 2014/2015 entwickelte er sein Spiel weiter. Bayerns damaliger Coach Pep Guardiola setzte ihn zwar weiter als Tiefensprinter ein, teilweise sogar vom linken Flügel aus startend. Immer öfter schaltete sich Lewandowski jedoch ins eigene Aufbauspiel ein, ließ sich fallen, forderte Bälle.

Der Gegner weiß nie, was er tut
Lewandowskis ständiger Drang, sich weiterzuentwickeln, formte ihn zu einem der komplettesten Stürmer der Welt. In den vergangenen zehn Jahren hat er sich in allen Teilbereichen des Fußballs weiterentwickelt: Er ist körperlich kräftiger geworden, technisch besser, sein Raumgefühl im Strafraum ist fast perfekt.

Lewandowski schirmt den Ball ab mit seinem Körper, leitet ihn mit einem Kontakt weiter und sprintet anschließend in höchstem Tempo in den Strafraum. Für gegnerische Verteidiger ist er kaum zu halten. Sie wissen nicht, was er als nächstes tut: Lässt er sich fallen? Startet er in den Fünf-Meter-Raum? Kommt die Flanke hoch oder flach?

Ist Lewandowski erst einmal am Ball, ist es bereits zu spät. Aus dem Spiel heraus erzielte er in dieser Saison neun Treffer mit dem ersten Ballkontakt (Kopfballtore und Elfmeter nicht einbezogen). Interessant aber auch: Sieben weitere Tore gelangen ihm mit der zweiten Ballberührung. Jedes Mal hatte er sich den Ball mit dem ersten Kontakt so perfekt vorgelegt, dass er sich von seinem Gegenspieler befreien und aufs Tor schießen konnte. Sein erster Ballkontakt ist nahezu immer makellos. Das macht es für seine Gegenspieler so schwierig, ihn zu stellen.

Exemplarisch für seine taktische wie technische Klasse steht sein 1:0-Treffer gegen Werder Bremen, der den Bayern den Meistertitel brachte. Lewandowski stahl sich im rechten Moment davon und sprintete hinter die Abwehr, ohne ins Abseits zu laufen. Die halbhohe Flanke von Jérôme Boateng legte er sich mit der Brust so vor, dass er mit dem zweiten Kontakt direkt abschließen konnte. Eine Augenweide.Das beantwortet indes nicht die entscheidende Frage: Warum stellte Lewandowski ausgerechnet in dieser Saison seinen eigenen Torrekord auf, nachdem er vergangene Saison "nur" 22 Tore erzielt hatte? Ein Blick auf den Expected-Goals-Wert zeigt, dass Lewandowskis Leistung sich gar nicht großartig verbessert hat. Der Expected-Goals-Wert bewertet jeden Torschuss eines Spielers nach der Wahrscheinlichkeit, wie hoch ein Torerfolg ist. In der vergangenen Saison erarbeitete sich Lewandowski laut der Seite Understat.com Chancen, die zu 33 Toren hätten führen sollen. In dieser Saison hätte er aus rein statistischer Sicht rund 31 Tore erzielen müssen. Es wurden 34.

Einfacher gesagt: Lewandowski erarbeitet sich gar nicht mehr Chancen als in der Vergangenheit. Er verwandelt sie nur kaltblütiger. Rund vier Torschüsse (4,12) benötigt Lewandowski für ein Tor. Das ist ein sehr guter Wert. Nur die beiden Dortmund Angreifer Erling Haaland mit 2,61 Versuchen pro Treffer und Jadon Sancho (3,12) haben eine bessere Quote - und diese Werte wiederum sind sehr außergewöhnlich.

Es fällt auf, dass Lewandowski seltener mit Wucht auf das Tor schießt, sondern häufiger mit Finesse. Kurz bevor er abschließt, geht sein Blick nach oben. Er schaut, wo der Torhüter sich befindet. Während des Schusses richtet sich der Blick immer auf den Ball – damit er die Kugel perfekt trifft.

In dieser Saison konnte sich Lewandowski endgültig vom Ruf befreien, ein Chancentod zu sein. Gerade in seinen ersten Jahren in der Bundesliga vergab er so manch hochkarätige Möglichkeit. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie viele Tore Lewandowski in seiner Karriere hätte erzielen können, wäre er immer so sicher gewesen wie heute.

In der Liste der Ewigen Torschützen der Bundesliga rangiert Lewandowski mit 236 Toren auf Rang drei. Im Verlaufe dieser Saison hat er seinen ehemaligen Trainer Jupp Heynckes (220 Tore) sowie Manfred Burgsmüller (213 Tore) überholt. Erzielt Lewandowski auch in der kommenden Spielzeit 34 Treffer, überholt er Klaus Fischer (268 Tore) auf Rang zwei. Nur Gerd Müller (365 Tore) scheint für den Polen uneinholbar.

Andererseits: Lewandowskis Vertrag beim FC Bayern läuft bis 2023, dann wird er 34 Jahre alt sein. Und bisher ist er ja immer besser geworden.

spiegel


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