Warum sich Boris Johnson mit China anlegt

  03 Juli 2020    Gelesen: 638
  Warum sich Boris Johnson mit China anlegt

Großbritannien will seinen ehemaligen Untertanen in Hongkong aus der Krise helfen - nicht ganz uneigennützig. Aber im Streit über das umstrittene Sicherheitsgesetz sitzt Peking am längeren Hebel.

Chinas neues Sicherheitsgesetz in Hongkong zeigt Wirkung: Direkt am ersten Tag seiner Gültigkeit wurden am Mittwoch zehn Menschen wegen Verstößen verhaftet, 370 wurden bei nicht genehmigten Protesten festgenommen.

Das Gesetz gibt China weitreichende Möglichkeiten, in der eigentlich autonomen Sonderzone hart durchzugreifen. Es ermöglicht Auslieferungen nach China, betrifft auch Ausländer und sieht als Höchststrafe lebenslange Haft vor.

Bei den Protesten wurde ein Beamter mit einer Stichwaffe angegriffen. Laut "South China Morning Post" wurde der 24-jährige Täter später in einem startbereiten Flugzeug festgenommen - es sollte nach Großbritannien gehen.

Dass der Angreifer ausgerechnet dorthin reisen wollte, mag Zufall gewesen sein, brisant ist es allemal. Denn wer in Zukunft unter welchen Voraussetzungen - und vor allem: mit welchen Erwartungen - aus der ehemaligen Kronkolonie ins Königreich reisen kann, wird momentan zum Instrument im Streit um Hongkong, in dem es unter anderem um die Rechte Chinas und die Pflichten des Westens geht.

Neue Rechte für ehemalige Bürger
Die Briten verurteilen Chinas harten Kurs besonders entschlossen und legitimieren dies mit ihrer historischen Verantwortung. Die britische Regierung wirft China vor, Verträge zu brechen, die beide Länder 1984 geschlossen haben, um die 1997 folgende Rückgabe Hongkongs an die Volksrepublik zu regeln.

Das neue Sicherheitsgesetz sei ein "klarer und schwerer Verstoß" dagegen, sagte Premier Boris Johnson am Mittwoch in einer Fragestunde des britischen Parlaments. Es greife Hongkongs Autonomie an und stehe in "direktem Konflikt" mit dem "Basic Law" der Sonderzone, Hongkongs eigener Miniverfassung. "Wenn China diesen Pfad weitergeht, werden wir einen neuen Weg einführen für diejenigen mit britischem Überseepass."

Gemeint sind diejenigen Hongkonger, die vor 1997 geboren wurden und den Status eines "British National Overseas" (BNO) haben. Derzeit besitzen dem britischen Außenministerium zufolge 349.881 Hongkonger den Überseepass, rund 2,9 Millionen sind berechtigt, ihn zu beantragen. Außenminister Dominic Raab stellte den Plan vor, der für sie und ihre Familien gelten soll:

Sie erhalten fünf Jahre Bleiberecht in Großbritannien und können währenddessen dort arbeiten und studieren.
Nach diesen fünf Jahren können sie eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis ("settled status") beantragen.
Nach weiteren zwölf Monaten können sie die britische Staatsbürgerschaft beantragen.

"Das Innenministerium wird einen simplen, glatt laufenden Bewerbungsprozess einführen", sagte Raab. Bislang können sich Bürger Hongkongs mit Überseepass bis zu sechs Monate ohne Visum in Großbritannien aufhalten.

Warum mischt Großbritannien sich so entschlossen ein?
Zwischen Coronakrise und schleppenden Brexit-Verhandlungen ist die britische Regierung eigentlich auch ohne Hongkong-Konflikt ausgelastet. Für Johnsons Regierung bietet der Hongkong-Konflikt aber grade wegen des ausbleibenden Erfolgs auf anderen politischen Schauplätzen die Möglichkeit, sich zu profilieren. Die Briten stellen den Konflikt mit China als Vertragsbruch unter ebenbürtigen Partnern dar - was ihren tatsächlichen Einfluss in Hongkong wohl überbewertet.

Doch handeln sie im Wissen um die Rückendeckung durch die EU und die USA. Beide verurteilen Chinas Vorgehen - handeln jedoch eher unentschlossen:

Die USA haben als Reaktion auf das Sicherheitsgesetz unter lautem Poltern Präsident Donald Trumps Sanktionen angekündigt. Diese dürften zwar chinesische Abgeordnete persönlich und Hongkong wirtschaftlich treffen, China aber ansonsten unbehelligt lassen.

Die EU hingegen positioniert sich verbal strikt gegen das neue Gesetz, lässt allerdings bislang keine Taten folgen. Und je zögerlicher die gleich gesinnten Westmächte vorgehen, desto mehr können die Briten mit konkreten Vorschlägen als Schrittmacher in der Hongkong-Frage auftreten.

Innenpolitisch könnte sich das Vorhaben als mindestens genauso gewiefter Zug erweisen - und fast unbemerkt eine drohende, selbstverschuldete Arbeitsmarktkrise abwenden.

Ein zentrales Versprechen der Brexit-Kampagne war es, die Migration zu regulieren. Anschlussregelungen, wie etwa ein Punktesystem nach australischem Vorbild, sind allerdings noch längst nicht ausgereift - ausländische Arbeitskräfte wandern indes bereits aufgrund der seit Jahren schwelenden Unsicherheit ab.

Die Lücken, die sie hinterlassen, könnten zum Desaster für Großbritanniens Wirtschaft und den öffentlichen Sektor werden, allen voraus für das Gesundheitssystem NHS.

Nun über einen vermeintlich altruistischen Sonderweg bis zu drei Millionen Hongkonger und ihre Angehörigen ins Land zu holen und mit Arbeitsberechtigungen auszustatten, könnte viele vakante Stellen füllen - und den Schaden eines ungeregelten Brexits etwas dämpfen.

Wie reagiert China?
"Die chinesische Seite verurteilt das entschieden und behält sich weitere Schritte vor", sagte Außenamtssprecher Zhao Lijian, angesprochen auf Londons Maßnahmen. Bereits im Mai hatte Zhao gesagt, dass alle "chinesischen Landsleute" in Hongkong chinesische Staatsbürger seien, ob sie nun einen britischen Überseepass hätten oder nicht.

Diesen erkennt China nur als "Reisedokument" an. Hongkong sei eine "innere Angelegenheit" Chinas, "niemand und nichts" könne die Entschlossenheit der chinesischen Regierung erschüttern, so Zhao. "Jeder Versuch, Chinas Souveränität und seine Sicherheits- und Entwicklungsinteressen zu unterminieren, sind zum Scheitern verurteilt."

London habe sich vor der Rückgabe Hongkongs an China verpflichtet, Besitzern des Überseepasses kein Niederlassungsrecht zu gewähren, so die chinesische Regierung. Es sich jetzt anders zu überlegen, sei ein Bruch dieser Zusage. Beide Länder beziehen sich bei ihren Vorwürfen des Vertragsbruchs auf die gleichen Abkommen. Anders als die westlichen Regierungen hatte Peking allerdings in der Vergangenheit verlautbart, dass die Erklärung keine praktische Bedeutung mehr habe.

Welche wirtschaftlichen Folgen könnte der Streit haben?
Vor allem Boris Johnsons Vorvorgänger David Cameron hatte sich für die wirtschaftlichen Beziehungen zu China eingesetzt - so sehr, dass ihm die Opposition Unterwürfigkeit vorwarf. Im "Guardian" erschien damals eine Karikatur, die Cameron auf einem Esstisch liegend zeigte: Chinas Staatschef Xi Jinping, bereits zwei Essstäbchen in der Hand, bestreute den britischen Premier mit Salz - und Cameron sagte: "Thank you for having me for dinner."

"Ein goldenes Zeitalter" der britisch-chinesischen Beziehungen war damals ausgerufen und mit einem Staatsbesuch Xis besiegelt worden. Das dürfte sich unter dem Eindruck des Hongkong-Streits nun rasch wieder ändern. Und Chinas Umgang mit anderen Staaten, die sich zuletzt seinen Zorn zugezogen hatten, lassen ahnen, was den Erben des Empires droht:

Peking könnte die Zahl der Touristen begrenzen, die nach England reisen; London ist eines der wichtigsten europäischen Reiseziele für Chinesen.

Die Zahl der chinesischen Studierenden könnte reduziert werden; die Chinesen stellen den größten Anteil der ausländischen Nachwuchsakademiker, die britischen Universitäten sind auf ihre Studienbeiträge angewiesen.
Range Rover, Rolls Royce und Burberry-Mäntel - noch lieben die Chinesen britische Produkte. Kaufen können sie sie allerdings nur so lange, wie ihre Regierung es ihnen erlaubt.

Noch vor gut einem Jahr hatte die britische Staatssekretärin für Handel, Baroness Rona Alison Fairhead, sich gefreut, wie gut die Exporte liefen: Güter und Dienstleistungen im Wert von 22 Milliarden Pfund führte Großbritannien nach China aus. Ziemlich genau doppelt so viel allerdings verkaufte China nach Großbritannien - und hat damit die weitaus größere Verhandlungsmacht.

spiegel


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