Was hinter dem Hagia-Sophia-Streit steckt

  24 Juli 2020    Gelesen: 493
Was hinter dem Hagia-Sophia-Streit steckt

Heute wird die Hagia Sophia in Istanbul erstmals seit über 90 Jahren wieder als Moschee genutzt. Präsident Erdogan spielt damit eine mächtige Karte, um gegen seine schwindende Unterstützung im Land anzukämpfen.

Türkische Fahnen wehen im Wind, die Stimmung ist festlich. Als am 10. Juli per Gerichtsurteil der Status der Hagia Sophia als Museum annulliert wurde, strömten Hunderte vor den Sakralbau, um zu feiern. Heute werden noch mehr erwartet, denn das fast 1500 Jahre alte Gebäude öffnet wieder als Moschee seine Türen. Damit erfüllt sich eine alte Forderung aus religiös-nationalistischen Kreisen, die Hagia Sophia wieder als islamisches Gotteshaus nutzen zu können. In seiner bewegten Geschichte war der Bau die einst größte Kirche der frühen Christenheit, nach der Eroberung des damaligen Konstantinopel von 1453 bis 1931 dann Moschee, unter Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk wurde er schließlich zum Museum.

"Wir haben die Hagia Sophia als eine Moschee vermisst - nun sind wir wieder vereint", sagt ein älterer Mann zu ntv.de. In Gesprächen mit den Menschen an Vorabend der Eröffnung wird auch immer wieder an Sultan Mehmet II., den "Eroberer", erinnert, der einst Konstantinopel einnahm. Der Siegeszug der Osmanen gegen Byzanz befeuert bis heute nationalistische Gefühle im Land. Die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee war gewissermaßen die Trophäe dieses Sieges.

Nicht überraschend also, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sich zuletzt zunehmend hinter die Moschee-Bewegung stellte. Kurz nach dem Gerichtsurteil ordnete Erdogan an, das Gebäude auch wieder als Moschee zu nutzen und wandte sich in einer Rede an die Nation. Und während die Hagia Sophia für die feierliche Wiedereröffnung am heutigen Freitag vorbereitet wurde, stattete der Präsident ihr noch einen medienwirksamen Besuch ab. Erdogan ließ die Macht der Bilder sprechen, um deutlich zu machen, dass dieses zentrale Anliegen des islamisch-nationalistischen Lagers Chefsache ist.

Erdogans AKP stürzt in Umfragen ab

Der Präsident hat Aufwind momentan bitter nötig, sagt Journalist Bülent Mumay. Ihm zufolge verliert der Präsident Unterstützung unter seinen Stammwählern, die Wirtschaft leidet, viele Menschen fürchten um ihre Jobs. "Der Traum, der Erdogan ihnen verkauft hat, ist nicht mehr da", sagt Mumay ntv.de. Die Corona-Krise verschlimmere die Situation noch weiter. In den Umfragen verliert der Staatschef an Zuspruch. Seine AKP und die rechtsextreme MHP, die seit den vergangenen Wahlen 2018 die Regierung stellen, kommen auf keine Mehrheit mehr. Erdogans AKP erhält in manchen Umfragen nur noch etwas über 30 Prozent - ein Absturz von mehr als 10 Prozentpunkten im Verglich zum Wahlergebnis. Kritiker sagen daher, es komme dem Präsidenten gelegen, mit diesem Schachzug von den Problemen abzulenken und gleichzeitig beim religiös-nationalistischen Lager zu punkten.

Aber Mumay betont, dass es dem Präsidenten nicht vordergründig darum gehe, neue Wähler hinzuzugewinnen. Vielmehr wolle Erdogan verhindern, nicht noch mehr an Unterstützung zu verlieren. Es gab Spekulationen, dass der Präsident so vielleicht vorgezogene Neuwahlen vorbereiten will. Bisher gibt es dafür aber noch keine belastbaren Hinweise. Normalerweise würden die nächsten Wahlen 2023 stattfinden.

Erdogan Versuch, die religiös-nationalistischen Türken zu umgarnen, vertieft aber die ohnehin schon bestehenden Gräben im Land. Für Türken, die sich ein säkulares, pro-westliches Land wünschen, ist die Umwandlung der Hagia Sophia von einem Museum in eine Moschee ein fatales Signal. Architekturstudentin Gökce Yilmaz etwa sagt im Gespräch mit ntv.de: "Mit Atatürk wurde die Türkei historisch gesehen zu einem säkularen Staat. Wenn wir von Säkularismus sprechen, meinen wir die politische Trennung von Religion und Staat. Als die Hagia Sophia zu einem Museum wurde, war es ein Zeichen des Friedens, ein Beweis, dass Menschen mit verschiedenen Religionen zusammenleben können."

Jetzt glaubt Yilmaz, ihr Land drifte genau in die entgegengesetzte Richtung. Die 23-Jährige sagt, sie beobachte die Veränderungen in der Türkei voller Sorge. Sie interpretiert die Nutzung der Hagia Sophia als Moschee als ein Zeichen dafür, dass Atatürk und den von ihm eingerammten politischen Grundpfeilern der Kampf angesagt wurde. Aber genau das mag dem religiös-nationalistischen Lager gefallen, das Erdogan umwirbt. Denn dessen Anhänger fühlten sich ja lange in der pro-westlichen, säkularen Republik Atatürks unterdrückt und an den Rand gedrängt.

"Die Hagia Sophia war ein sehr wichtiger Hebel"

Die Wohnung von Yilmaz ist klein und bescheiden. Die Studentin glaubt, dass es kaum leichter werden wird, Geld zu verdienen - sie sorgt sich um ihre Zukunft und dass sie keine Arbeit finden wird. So gehe es auch anderen, sagt sie: "Die Regierung verliert die Unterstützung unter jungen Menschen. Aus vielen Gründen verliert sie an Stärke. Sie haben aber einige Hebel in der Hand - zum Beispiel Religion. Die Hagia Sophia war ein sehr wichtiger Hebel, den sie jetzt nutzen."

Die Umwandlung in eine Moschee erlaube Erdogan, auf dem internationalen Parkett ein Zeichen der Stärke zu senden, angesichts weltweiter Proteste, die diese Entscheidung ausgelöst hatte, sagt Yunus Genc von der islamistisch-konservativen Jugendvereinigung Anadolu. Die Vereinigung hatte für die Umwidmung gekämpft. "Bis heute konnte die muslimische Welt keine Einheit formen, aber die Türkei hat die Fähigkeiten, diese Einheit voranzutreiben und sie anzuführen", sagt Yunus. Deswegen habe die Regierung erklärt, nicht wegen der negativen Haltung oder dem Druck von außen nachzugeben. "Obwohl westliche Länder nicht wollen, dass die Hagia Sophia eine Moschee wird, zeigt die Türkei, dass sie entschlossen ist, diesen Schritt zu gehen und eigene Entscheidungen zu fällen."

Auch wenn es einen internationalen Protestschrei gab, vor allem aus Griechenland und Russland - Ländern, in denen die orthodoxe Kirche eine wichtige Rolle spielt. Am Ende, so scheint es, ist die Umwidmung der Hagia Sophia also ein Versuch, Stärke im Inland wie im Ausland zu demonstrieren, in der Hoffnung, so das nationalistisch-religiöse Lager bei der Stange zu halten.

Quelle: ntv.de


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