Tausende Kinder vergewaltigt – und alle sahen weg

  26 Februar 2016    Gelesen: 1241
Tausende Kinder vergewaltigt – und alle sahen weg
Angeklagt: Arshid H., Bannaras H., Basharat H., Shelley D., Karen M. und Qurban A. müssen sich wegen massenhaften Kindesmissbrauchs im britischen Rotherham vor Gericht verantworten
Triumph und Elend, Himmel und Hölle liegen selten so nah beieinander. Am Morgen, an dem das dunkelste Kapitel der britischen Unterhaltungsindustrie wieder aufgeschlagen wird, feiern die Tageszeitungen noch die "Brit Awards" und Adele. Stellvertretend für den sagenhaften Erfolg der britischen Musikindustrie strahlt die Sängerin von sämtlichen Titelseiten. Sie kann die vielen Trophäen gar nicht halten.

Es ist ein Tag, an dem Großbritannien rundherum stolz auf sich und seine Popkultur sein könnte. Politisch mag das Königreich in der Nordsee keine Supermacht mehr sein, doch kulturell dominiert es die Welt bis heute. Wäre da nicht Jimmy Savile, könnte Großbritannien auftrumpfen. Er war der verschrobenste, beliebteste DJ und Entertainer, den Großbritannien je hatte, und wurde vor nicht allzu langer Zeit ebenfalls auf den Titelseiten gefeiert.

Der Abschlussbericht über die perversen Machenschaften des Superstars der BBC erstickte die Euphorie über die "Brit Awards" mit seinen 1000 Seiten schlagartig. Die Sünden des blonden Kinderschänders, dem das Land zu Füßen lag, sind unfassbar, zu zahlreich und wurden von zu vielen Mitwissern gedeckt, als dass sein Tod sie getilgt hätte.

Dazu sind die Schlussfolgerungen, die jetzt nach dreieinhalb Jahren langer Untersuchungen veröffentlicht worden sind, zu eindeutig: Der Bericht weist die Schuld unmissverständlich der BBC zu. Großbritanniens weltberühmte Rundfunkanstalt wird sich so schnell nicht von Jimmy Savile erholen.

Das jüngste Mädchen war 13 Jahre alt

Als führte ein unbarmherziger Richter Regie, werden in dieser Woche auch die Urteile gegen sechs Kinderschänder in Rotherham gefällt. Zeitgleich mit dem Vergewaltiger im Showbusiness wird die Nation auch mit den Vergewaltigern aus der Gosse konfrontiert.

Rotherham ist die parallele Geschichte zu Jimmy Saville und der BBC. In beiden Fällen – ganz oben in der Gesellschaft und ganz unten – stellt sich die gleiche, quälende Frage: Wie konnte das nur passieren? Und beide Fällen lassen nur die eine, erschreckende Antwort zu: Weil die Verantwortlichen es Jahrzehnte lang nicht wahrhaben wollten und weggesehen haben.

Die von der Juristin Dame Janet Smith geleitete Untersuchung konnte 72 Opfer von Savile identifizieren – 57 Frauen und Mädchen und 15 Jungen, die er zwischen 1959 und 2006 missbrauchte. Das jüngste Mädchen, das er vergewaltigte, war 13 Jahre alt, der jüngste Junge zehn.

Drei Fälle von Vergewaltigung oder versuchter Vergewaltigung fanden auf dem Firmengelände der BBC statt. "In praktisch jeder Ecke der BBC" , so der Bericht, ging Savile auf Kinder los. Die Ermittler sprachen mit 117 BBC-Angestellten, die von den sexuellen Übergriffen ihres Moderators zumindest gerüchtehalber wussten. Trotzdem kamen seine Vergehen erst nach seinem Tod ans Licht.

Dame Janet Smith bezichtigt die BBC einer internen Kultur, in der sexuelle Belästigung und Diskriminierung zur Tagesordnung gehörten. Ihre verheerende Kritik beschränkt sich jedoch nicht auf die Savile-Ära. Bis heute, schreibt sie, herrsche in der Anstalt eine "Atmosphäre der Angst", unter der ihre Informanten gelitten hätten. Das führt sie auch auf den harten Wettbewerb zurück, der innerhalb der BBC herrsche, und auf die Unsicherheit vieler Arbeitsplätze.

Systematisch zu Sexsklavinnen herangezogen

Etwa 300 Kilometer von der BBC-Zentrale in London entfernt, im "verdorbenen Teufelsloch von Yorkshire", wie der Guardian einst schrieb, rührt ein Gerichtsverfahren derweil am gleichen nationalen Trauma. Sechs Angeklagte sind in Rotherham für schuldig erklärt worden – drei Brüder, ihr Onkel und zwei weibliche Bekannte – und ihre Taten eröffnen den Blick in einen Abgrund, dessen Ausmaß geradezu unvorstellbar ist.

Zwischen 1997 und 2013 sollen in der heruntergekommenen ehemaligen Zechenstadt mindestens 1400 Mädchen von Hunderten Männern vor allem pakistanischer Herkunft systematisch zu Sexsklavinnen herangezogen und regelmäßig missbraucht worden sein. Der jetzige Prozess ist nur der Anfang einer langen Reihe von Verhandlungen, in denen die Verbrechen an den meist aus armen Verhältnissen stammenden Mädchen aufgearbeitet werden.

Die Bande der sechs Angeklagten hat 15 Mädchen, von denen die jüngste 11 Jahre alt war, vergewaltigt, prostituiert, eingesperrt und brutal misshandelt.

Wie in der BBC hat auch in Rotherham niemand eingegriffen. Die Polizei, die Verantwortlichen der Stadt und das Sozialamt haben zahllose Hinweise ignoriert. Opfer der sechs Angeklagten schilderten während des Prozesses, wie sie viele Male die Polizei vergeblich um Hilfe gebeten hätten.

Eine Frau sagte, sie hätten schließlich das Gefühl gehabt, dass die Angeklagten niemals bestraft werden würden, weil ihnen Rotherham anscheinend "gehörte". Ihr Peiniger habe gesagt, er besitze "Schnüffler" bei der Polizei und würde es sofort erfahren, falls sie zur Wache ging.

Die ganze Polizei machte sich schuldig

"Zu wissen, was vor sich ging und die Mädchen derart im Stich zu lassen – das ist nicht die Schuld eines einzelnen Beamten, sondern es ist die gesamte Polizei, die sich schuldig gemacht hat", sagte Allan Billings, Chef der Polizei in Süd-Yorkshire. Gegen 55 Polizisten seiner Einheit wird nun ermittelt.

Auch die BBC wird die Vergangenheit nicht los. Dame Janet Smith hat die Anstalt verpflichtet, innerhalb von sechs Monaten zu erklären, wie sie verhindern wird, dass Vergehen in Zukunft übersehen und vertuscht werden.

Gleichzeitig sorgt die Entlassung eines weiteren Stars für Aufregung: Tony Blackburn hat als DJ 50 Jahre lang aufgelegt. Die genauen Gründe für die Entlassung sind noch unklar. Doch Blackburn bezichtigt die "alte Tante" BBC, ihn als Sündenbock zu opfern, um sich reinzuwaschen. Dass das nicht gelingen wird, steht allerdings längst fest.

Quelle : WELT.DE

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